In der Nacht zum Samstag zertrümmert ein Mob aus Hunderten schwarz vermummten Linksextremisten das Schulterblatt: Die gleichnamige Straße ist das Zentrum des linksalternativ geprägten Schanzenviertels in Hamburg, das unmittelbar an das Messegelände angrenzt, wo der G20-Gipfel stattfindet. Ausschreitungen bei Demonstrationen ist die Gegend rund um das seit 1989 besetzte Zentrum Rote Flora, ein früheres Theater, gewöhnt, doch was dort seit Einbruch der Dunkelheit geschieht, ist ohne Beispiel. Gegen Mitternacht gerät die Lage völlig außer Kontrolle, Barrikaden brennen, fast unablässig schleudern die Randalierer Pflastersteine, Flaschen und Böller in Richtung der Polizeihundertschaften in voller Kampfmontur. Wasserwerfer spritzen in Richtung der Randalierer, Hubschrauber knattern über dem Gewirr aus engen Gassen. Doch die Polizei wartet ab – zunächst.
„Warum tun die nichts – die ganze Schanze brennt“, kreischt eine Anwohnerin mit raspelkurzen Haaren und zahlreichen Piercings in Lippen, Nase und Ohren. Dass sie sich im Schanzenviertel ein schnelleres Eingreifen der Staatsmacht wünschen, ist untypisch. Doch jetzt fragen sich viele Anwohner: Warum sieht die Polizei, die noch am Vortag nach ersten Flaschenwürfen eine Großdemonstration beendet hat, nun dem zerstörerischen Treiben so zu? Warum kann sich ein entfesselter Mob stundenlang auf den engen Gassen des Schanzenviertels austoben. Fassungslos verfolgen Passanten, wie Chaoten die Scheiben von Geschäften zertrümmern und die Waren davonschleppen. Auch Livebilder im Fernsehen und zahlreiche Augenzeugen-Videos im Internet dokumentieren das Wüten der Linksextremisten und ihrer Mitläufer.
Ein Rewe-Markt, eine Filiale des Hamburger Traditionsdrogeristen Bundnikowsky, eine Spielothek, aber auch eine winzige Buchhandlung und andere kleine, offensichtlich inhabergeführten Läden werden völlig verwüstet. Scherben überall. Ein Vermummter wirft einen Arm voll Spraydosen aus dem Drogeriemarkt ins Feuer, meterhoch lodern die Stichflammen in den Nachthimmel. Den schwarz maskierten Autonomen folgen auch Passanten in die Läden, die sich nicht einmal die Mühe machen, beim Plündern ihre Gesichter zu verbergen – der Großteil hat es vor allem auf Alkohol abgesehen.
Überhaupt: Wer ein friedliebender Demonstrant ist, wer ein Anwohner und wer ein gewaltbereiter Autonomer, das ist für die Polizei während der Hamburger Chaostage oft schwer zu erkennen. Mitglieder der gefürchteten „schwarzen Blocks“ maskieren sich oft erst in letzter Sekunde vor einer Attacke mit Tuch, Kapuze und Sonnenbrille – und legen ihre Vermummung auch schnell wieder ab, um auf der Flucht in den Massen der Schaulustigen unterzutauchen.
In Hamburg sind während des G20-Gipfels neben der Mehrheit friedlicher Demonstranten, die ein Zeichen für eine gerechtere Welt setzen wollen, und einer wenn auch stattlichen Minderheit offensichtlich in höchstem Maße gewaltbereiter Extremisten, auch unzählige schwierige Zaungäste unterwegs. Die Polizei spricht von der Gruppe der „Erlebnisorientierten“, die nicht organisiert sind, mit Politik wenig am Hut haben, aber den Krawallen folgen, sich aufspielen, die Polizei provozieren, Parolen mitgrölen, die Straftäter anfeuern. „Ganz Hamburg hasst die Polizei“ tönt es manchmal auch mit niederbayerischem Akzent.
Viele der Gaffer sind erkennbar betrunken oder stehen unter anderem Drogeneinfluss. Auch Samstagnacht im Schanzenviertel herrscht eine bizarre Mischung aus Hass, Gewaltbereitschaft, Krawalltourismus und Partystimmung. Während Barrikaden aus Fahrrädern, Müllcontainern und alten Möbeln brennen, schießen junge Männer in Siegerpose Selfies vor Wasserwerfern und lassen vor Polizeikräften in voller Kampfmontur die Hosen herunter. Ist die Bierflasche ausgetrunken, wird sie unter Gejohle in Richtung Polizei geworfen. Und auch Mädchen im Abi-2017-T-Shirt jubeln, wenn aus dem schwarzen Block Böller fliegen.
Im beißenden Brandgeruch harren Gäste von Kneipen und Bars an ihren Tischen im Freien aus, trinken Wein, lassen sich beim Pizzaessen von den brennenden Stapeln aus Fahrrädern, Altmöbeln und Müllcontainern nicht stören. Es fällt auf, dass der Bürgersteig auf meterlangen Abschnitten keinen Belag mehr hat – Autonome haben die schweren Betonplatten und die Pflastersteine aus Granit in den vergangenen Stunden weggeschafft.
Und diese Tatsache lässt für die Polizei Schlimmstes befürchten, führt direkt zu den mutmaßlichen Gründen, warum die Einsatzleitung in der Nacht zum Samstag mit der Räumung des größten Krawallherdes so lange zögert. Denn die Beamten müssen offenbar damit rechnen, dass die Autonomen sie in der Straße „Schulterblatt“ in eine lebensgefährliche Falle locken wollen. Die Chaoten haben die Zementplatten von den Gehwegen und die Pflastersteine offenbar auf mehrere Hausdächer im Schulterblatt geschleppt. Auch von ganzen Materiallagern, die Autonome für den Bau von Brandsätzen angelegt haben sollen, ist die Rede. Und es gibt Hinweise, dass die Linksextremisten den Hinterhalt vorbereitet haben, während andere Gruppen von Militanten die Polizei am nahen Pferdemarkt zur Ablenkung in Straßenschlachten verwickelten. Der Beginn der Plünderungen auf dem Schulterblatt, so wird befürchtet, sei dann im Rahmen eines genau ausgearbeiteten Schlachtplans erfolgt – um die Polizisten zum Einrücken in die Gefahrenzone zu zwingen.
In Sicherheitskreisen heißt es weiter: Wären die Beamten unbedarft vorgerückt, um die Plünderer an ihrem Werk zu hindern oder brennende Barrikaden zu löschen, wäre von den umliegenden Hausdächern wahrscheinlich ein verheerender Hagel aus Stein und Feuer auf sie niedergegangen. Aus diesem Grund sei etwa bei dem Einsatz gegen die Chaoten, die sich in einem eingerüsteten Haus verschanzt hatten, Sicherheit vor Schnelligkeit gegangen, wurde weiterer Sachschaden in Kauf genommen, um Leben und Gesundheit von Beamten zu schützen. Auch die schwer bewaffneten, besonders für den Häuserkampf ausgebildeten und geschützten Spezialkräfte müssen erst an den Einsatzort verlegt werden. Sie stürmen schließlich die mehrstöckigen Gebäude, in denen sich die Chaoten verschanzt haben – es gibt mehrere Festnahmen. Erst gegen 1 Uhr in der Früh ist das Schulterblatt geräumt. Ein Polizeisprecher bestätigt am Samstag, dass mit Angriffen von den Hausdächern gerechnet wurde: „Es bestand die Gefahr, dass sie Gehwegplatten werfen.“ Er wertet es daher als Erfolg, dass bei dem Einsatz auf dem Schulterblatt „nur“ 17 Beamte verletzt wurden. Über die ganzen Chaostage vor, während und nach dem zweitägigen G20-Gipfel hinweg verzeichnet die Polizei insgesamt 476 Verletzte in ihren Reihen.
Etliche wurden von Stahlkugeln und Steinen getroffen, die mit „Zwillen“ abgeschossen wurden – der norddeutsche Begriff für Steinschleuder klingt harmlos, doch die Schleudern, mit denen mehrere Beamte beschossen werden, sind es nicht – es handelt sich um Präzisionswaffen von extremer Durchschlagskraft. Über die Zahl der Verletzten Demonstranten gibt es derzeit keine gesicherten Angaben. Sie dürfte ebenfalls in die Hunderte gehen.
Schon am Vorabend des Gipfels kommt es zu Ausbrüchen blinder Zerstörungswut. Bei der Demonstration, die das linksextreme Zentrum „Rote Flora“ angekündigt hat, bildet sich ein großer Schwarzer Block von rund tausend Vermummten. Die Polizei hält den Zug an und fordert die Maskierten auf, Tücher, Schals und Kapuzen abzunehmen. Als Antwort fliegen Flaschen und Steine. Die Polizei reagiert mit Wasserwerfern und Pfefferspray und erklärt die Demonstration kurz darauf für beendet. Vermummte flüchten über eine Kaimauer.
In den folgenden Stunden ziehen Hunderte von Chaoten in Kleingrüppchen marodierend durch die Straßen der Hansestadt, zünden eine große, aber zunächst noch unbekannte Zahl von Autos an, ob Limousinen der Oberklasse oder Kleinwagen spielt keine Rolle. In ganzen Straßenzügen wird kaum ein Fahrzeug verschont. Scheiben und Schaufenster zertrümmern die Horden mit Pflastersteinen, wenn die nicht reichen, benutzen sie Verkehrsschilder als Rammen. Zahlreiche Geschäfte werden verwüstet. In bürgerlichen Stadtteilen wüten die entfesselten Kriminellen ebenso wie in linksalternativ geprägten Szenevierteln.
Eine Frau mit blonder Strubbelfrisur, die in der Hafenstraße in St. Pauli lebt, ist sich sicher: „Das sind keine Leute von hier, die fackeln doch nicht das eigene Viertel ab.“ Zwar berichtet auch die Polizei, dass unter den geschätzten 10 000 Gewaltbereiten, die während des Gipfels in der Stadt sind, Autonome aus dem ganzen Bundesgebiet und aus vielen Ländern der Welt befinden.
Doch die routinierte Art, wie sich die Grüppchen Vermummter etwa im Schanzenviertel nach Scharmützeln mit der Polizei immer wieder in kleine Seitenstraßen zurückziehen, spricht für Ortskenntnis, dafür, dass die etwa 850 Köpfe zählende linksextremistische Szene in Hamburg bei den Krawallen ganz vorn dabei ist. Die beginnen am Samstagabend von neuem, als Donald Trump oder Wladimir Putin schon längst wieder abgereist sind.