Am Sonntag wählen die Griechen ein neues Parlament – bereits zum zweiten Mal in nur sechs Wochen. Mehr noch als der erste Urnengang Anfang Mai, der zu einem politischen Patt führte, gilt diese Abstimmung als Weichenstellung, bei der die Griechen nicht nur über ihre eigene Zukunft entscheiden. Fragen und Antworten zur Schicksalswahl.
In den letzten zwei Wochen vor der Wahl dürfen in Griechenland keine Umfrageergebnisse veröffentlicht werden, um die Wähler nicht zu beeinflussen. Es gibt deshalb kein klares Bild der aktuellen Stimmungslage. Aber die meisten bisher publizierten Umfragen lassen ein Kopf-an-Kopf-Rennen der konservativen Nea Dimokratia (ND) und des radikallinken Bündnisses Syriza erwarten. In acht der elf zuletzt bekanntgewordenen Befragungen liegt die ND knapp vorn, in zwei Untersuchungen führt Syriza mit ziemlich deutlichem Abstand, und eine Umfrage sieht beide Parteien jeweils gleichauf.
Egal ob die Konservativen oder die Radikallinken gewinnen: Wenn sich die Umfragen bewahrheiten, wird voraussichtlich keine der beiden Parteien eine absolute Mehrheit der Mandate erreichen. Sie müssen also Partner finden. Damit bekommen voraussichtlich zwei Gruppierungen eine Schlüsselrolle: die sozialistische Pasok, die in den letzten Umfragen bei rund zwölf Prozent liegt, und die Demokratische Linke, deren Stimmenanteil die Meinungsforscher bei sechs Prozent ansetzen. Beide sind pro-europäisch und wollen am Euro festhalten. Sie könnten einer der beiden großen Parteien zu einer parlamentarischen Mehrheit verhelfen. Eine Regierungsbildung gegen die stärkste Partei wird allerdings kaum möglich sein, denn die bekommt laut griechischem Wahlrecht im Parlament einen Bonus von 50 der 300 Sitze.
Alle Parteien sagen: So wie bisher kann es nicht weitergehen, denn der Sparkurs treibt immer mehr Menschen ins Elend. Der konservative Parteichef Antonis Samaras will zwar grundsätzlich an den Zielen des Konsolidierungsprogramms festhalten, fordert aber eine Lockerung der Sparauflagen, mehr Zeit für die Haushaltssanierung und Wachstumsimpulse für die griechische Wirtschaft. Der Radikallinke Alexis Tsipras dagegen will den Sparpakt einseitig aufkündigen, den Schuldendienst einstellen, die meisten Strukturreformen zurückdrehen und große Teile der Wirtschaft verstaatlichen. So steht es zumindest im kürzlich vorgestellten Wahlprogramm der Partei. Sie riskiert damit ein Ende der Hilfskredite und den Staatsbankrott. Damit würde sich Griechenland selbst aus der Währungsunion katapultieren. Tsipras schlug zwar in den letzten Tagen vor der Wahl mildere Töne an, um Wähler der Mitte zu gewinnen. Aber in seiner Partei dominieren die europafeindlichen Hardliner.
Acht von zehn Griechen sagen, dass sie am Euro festhalten möchten. Ebenso viele sind aber gegen das Sparprogramm – auf den ersten Blick ein Widerspruch. Syriza-Chef Tsipras suggeriert den Wählern allerdings, dass sich beides unter einen Hut bringen lässt. Die EU könne Griechenland gar nicht fallen lassen, wegen des drohenden Dominoeffekts, behauptet der Linkspolitiker. Aber das ist ein riskantes Vabanquespiel, zumal immer mehr Politiker die Geduld mit Griechenland verlieren – nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Das Land ist zunehmend gelähmt – politisch, weil es schon seit Mitte April kein Parlament mehr gibt, aber auch wirtschaftlich. Die Reformen sind zum Stillstand gekommen, die Privatisierungen liegen auf Eis. Dem Staat geht das Geld aus, das öffentliche Gesundheitswesen steht vor dem Zusammenbruch. Die wirtschaftliche Talfahrt beschleunigt sich immer mehr, die Arbeitslosigkeit steigt dramatisch. In diesem Jahr wird die Wirtschaftsleistung voraussichtlich um sechs Prozent schrumpfen. Die eskalierende Krise verstärkt die politische Polarisierung. Alle Meinungsumfragen zeigen einen klaren Trend: die Splitterparteien verlieren Anteile, die beiden großen Parteien, Konservative und Radikallinke, gewinnen Wähler hinzu.
Das Wichtigste: Sie muss schleunigst das tief erschütterte Vertrauen der Griechen in die Politik wiederherstellen und in Europa, um Vertrauen für Griechenland werben. Letzteres wird unbequeme Entscheidungen erfordern, und zwar schnell: Bis Ende Juni erwartet die Troika neue Sparzusagen Griechenlands über 11,4 Milliarden Euro für die Jahre 2013 und 2014. Dazu gehören Massenentlassungen im Staatsdienst. Die neuen Sparbeschlüsse, die vom nächsten Parlament gebilligt werden müssen, sind die Voraussetzung für die Überweisung weiterer Kreditraten – es sei denn, die Geldgeber lockern die Bedingungen und überweisen kurzfristig Mittel. Griechenland braucht jedenfalls dringend Geld. Ohne ausländische Hilfe sind die Staatskassen am 20. Juli leer.
Der Staat müsste die Zahlung von Gehältern und Renten einstellen. Das könnte zu Unruhen führen. Die Menschen würden vermutlich versuchen, die Banken zu stürmen. Denkbar wäre, dass der Staat die Beamten und Rentner mit Schuldscheinen „bezahlt“ – in der Finanzbranche spricht man von IOUs. Die Abkürzung leitet sich aus den Worten „I owe you“ her, „ich schulde Dir“. Solche Schuldscheine wären der erste Schritt zu einer neuen Währung, der Neuen Drachme.
Es wäre praktisch eine Massenenteignung der Bevölkerung. Fachleute erwarten, dass die Neue Drachme gegenüber dem Euro sehr schnell an Wert verlieren würde, mindestens 50 Prozent im ersten Jahr. Die Griechen hätten also viel weniger Kaufkraft im Portemonnaie. Vor allem Importwaren würden unerschwinglich, es drohten Engpässe bei der Versorgung mit Treibstoffen, Ersatzteilen, Medizin und sogar Lebensmitteln. Die Hyperinflation würde Kredite enorm verteuern, viele Menschen könnten ihre Wohnungen und Häuser nicht mehr abbezahlen. Der griechische Ex-Premier Kostas Simitis erwartet bei einer Rückkehr zur Drachme „nie da gewesene Armut und Arbeitslosigkeit“. Die Staatsschulden würden auf 250 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung explodieren, und mit Drachmen könnte das Land diese Schulden niemals zurückzahlen. Griechenland müsste also entweder einen Schuldenerlass aushandeln oder die Staatspleite erklären.
Die sind kaum zuverlässig vorherzusagen. Eine Insolvenz Griechenlands gilt zwar vielen Fachleuten inzwischen als beherrschbar. Seit Monaten haben Regierungen, Banken und Unternehmen versucht, sich auf diesen Fall vorzubereiten. Die Kosten wären allerdings erheblich. Die den Griechen bisher ausgezahlten Hilfskredite wären verloren. Hinzu kämen große Verluste für die Europäische Zentralbank, der die griechischen Banken zurzeit etwa 62 Milliarden Euro schulden. Fachleute schätzen, dass allein Deutschland eine Griechen-Pleite bis zu 100 Milliarden Euro kosten könnte. Politisch noch brisanter sind jedoch die möglichen Reaktionen der Finanzmärkte. Es könnte im schlimmsten Fall zu einer Kettenreaktion kommen, die andere Krisenstaaten wie Italien, Spanien, Portugal und Irland mitreißt.