Bei Branchentreffen wie den Medientagen München geht es immer um das Große und Ganze. Klar, um was sonst? Die Vermessung der gegenwärtigen Medienwelt reicht da jedenfalls nicht aus. Auch an die Zukunft wird Maß angelegt. Ein bisschen ist das so wie mit den Mondgrundstücken. Der Mond ist scheinbar so greifbar nah und doch so schrecklich weit entfernt. Egal, aufgeteilt wird er trotzdem, Stück für Stück. Erster Treffer bei Google: „Echtes Mond-Grundstück ab 39,95 Euro inkl. Besitzurkunde. Hier kaufen! 100 Tage Rückgaberecht.“ Nicht zufriedenstellend beantwortet sind dagegen die ewigen Fragen der Menschheit: Gibt es Leben auf dem Mond? Ist dort Leben möglich und wie genau?
Genau das sind auch die ewigen Fragen, über die sich Medienschaffende die Köpfe zerbrechen – wenngleich nicht in Bezug auf den Mond. Sondern eben mit Blick auf die Zukunft ihrer Branche. Bei den Medientagen München wurde also gefragt: „Social TV – The Future of TV?“ Oder: „Future Trends: Data, Mobile, AR & Co – Was auf uns zukommt“. Ja, die Zukunft kommt auf uns zu. Und das oft anders, als wir Medienschaffende uns das bisweilen ausmalen.
Die Revolution, die keine wurde
Was war noch gleich vor fünf Jahren der große Trend, der ganz gewiss die Medienwelt – zumindest die Unterhaltungsbranche – revolutionieren würde? Stimmt, Virtual Reality! 3-D-Brillen! 2012 wurden die ersten in Massenproduktion hergestellt, aber die Massen wollten sie nicht massenhaft kaufen. Auch nicht, als sie einigermaßen erschwinglich wurden. Das Ende der virtuellen Realität? Mal sehen. Kürzlich berichtete die Zeit darüber, dass die Pornobranche der Technologie doch noch zum Durchbruch verhelfen könnte. Weil 3-D-Pornos ein besonderes Erlebnis sein sollen.
Sie müssen sich nicht wundern: Nackte Haut war stets ein Motor des Fortschritts. Der Erfolg des Internets hat in großem Maße mit Pornofotos und später Pornovideos zu tun. Vor Jahrzehnten bereits halfen Pornos der Videokassette im VHS-Format zu weltweiter Verbreitung. Um Pornos ging es bei den Medientagen München in diesem Jahr allerdings nicht. Die Fachmesse dafür heißt übrigens Venus.
Auch darum ging es bei den Medientagen: Wie gewaltig der Umbruch im traditionellen Fernsehmarkt ist, lässt sich erahnen, wenn man Bernd Reichart eine Weile zuhört. Der Geschäftsführer des privaten TV-Senders Vox denkt inzwischen in „Programm-Marken“. Er meint damit Erfolgsformate wie „Die Höhle der Löwen“ oder den „Club der roten Bänder“. Wo diese laufen – im klassischen, linearen Fernsehen oder auf einer Internetplattform –, ist für ihn zweitrangig geworden.
Die Zuschauer haben große Macht
So könne er sich vorstellen, sagt er in München, dass eine Serie wie „Club der roten Bänder“ künftig erst auf einer Video-on-Demand-Plattform ausgestrahlt werde und später auf Vox. Immer weniger Zuschauer richteten sich nach festen Sendeplätzen und wollten ihre Lieblingsformate sehen wann und wo sie wollten. Reichart zufolge haben Zuschauer große Macht und die Sender diese Aufgabe: „Wir müssen den Zuschauer hören und bedienen.“ Dort, wo er ist. Im Wohnzimmer vorm TV-Gerät, im Zug mit dem Laptop, in der Straba mit dem Smartphone.
Zuschauerwünsche zu bedienen, bedeutet dabei auch, zunehmend anspruchsvolle Inhalte zu produzieren. Pay-TV- und Streaminganbieter wie Sky, Amazon Prime Video oder Netflix haben ein funktionierendes Geschäft daraus entwickelt und mit ihren Hochglanz-Serien die Erwartungshaltung nach oben geschraubt.
Am 1. Dezember startet weltweit die erste deutsche Netflix-Serie „Dark“, die Quirin Berg als Produzent verantwortet. Er sagt, die internationale Komponente einer Produktion werde wichtiger. Gutes Beispiel dafür ist die mit schätzungsweise 40 Millionen Euro teuerste deutsche Serie aller Zeiten, „Babylon Berlin“, von Sky und der ARD. Bereits vor Sendestart am 13. Oktober war sie in 60 Länder verkauft. Die Sender setzen auf Kooperationen. Denn: „Die wahren Gegner“, sagt Reinhard Scolik, Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, „sind Amazon, Google und Facebook.“
Und auch darum ging es bei den Medientagen: Der Software-Ingenieur von Microsoft läuft durch London. Jetzt wischt er mit dem Finger über den Bügel seiner Smartglasses. Die Datenbrille schießt ein Foto und sagt, dass sich vor ihm ein Skateboardfahrer befinde. Er läuft weiter, geht in ein Restaurant und fotografiert die Speisekarte mit seinem Smartphone ab. Es sagt ihm, was es zu essen gibt. Der Mann ist blind.
Thomas Heigl von Microsoft Deutschland will mit dem kurzen Video zeigen, welche Möglichkeiten Sprachassistenz-Systeme bieten. Und was sie bereits können. Sprachassistenten wie Amazons Alexa, Apples Siri, Googles Assistant oder Microsofts Cortana sind für Thomas Heigl oder auch für Jens Redmer von Google Deutschland die Schlüsseltechnologie der nächsten Stufe der digitalen Revolution, die unmittelbar bevorstehe.
Die Riesenschritte der Technik
Alle zehn Jahre gebe es einen Entwicklungssprung, sagt Heigl: Die 1990er Jahre habe der Personal Computer bestimmt, die 2000er das World Wide Web, die 2010er das Smartphone. Die 2020er Jahre würden im Zeichen autonomer Maschinen stehen. „Das Smartphone ist weitgehend fertig entwickelt“, sagt er. In der nächsten Phase des Fortschritts interagiere die Technik mit uns. „Die Technik wird uns verstehen.“
Und sie macht Riesenschritte. „Vor sieben, acht Jahren haben wir die ersten Gehversuche mit Sprachassistenten unternommen. Heute wird weltweit jede fünfte Suchanfrage bei Google auf mobilen Geräten gesprochen“, sagt Jens Redmer. Erst kürzlich hat Google Kopfhörer präsentiert, die Sprachen übersetzen können – und zwar in Echtzeit, wie ein Simultandolmetscher.
Auch für die Medienbranche und für Verbraucher eröffnen sich, so die Experten, eine Fülle neuer Möglichkeiten. Eva Messerschmidt vom Nachrichtensender n-tv spricht von Displays, kleinen Bildschirmen, auf Kühlschränken oder Dunstabzugshauben. Auf denen könnten n-tv-Nachrichten laufen – und vorgelesen werden. Praktisch, wenn man seine Hände am heißen Kochtopf hat. Kochrezepte kann man sich natürlich ebenfalls anhören. Nur kochen muss man noch selber.