Der Brexit hängt in der Schwebe: Das britische Parlament verweigert Premier Boris Johnson ein weiteres Mal die Gefolgschaft. Johnson will jetzt mit der EU reden – und treibt die Vorbereitungen für einen ungeregelten Austritt voran.
Alles im Brexit-Drama ist nach diesem Dienstagabend wieder einmal anders als erwartet. Das Parlament billigte zwar den Gesetzesrahmen für das Brexit-Abkommen im Grundsatz – nach der zweiten Lesung stimmten 329 Abgeordnete für das Paket, 299 sprachen sich dagegen aus. Noch entscheidender war jedoch das Votum über den Zeitplan der weiteren Beratung, das die Regierung verlor. Es macht im Effekt die Bestrebung von Boris Johnson, bis zum 31. Oktober auszutreten, zunichte. Der Premier hat deshalb das Ratifizierungsverfahren vorerst auf Eis gelegt. Am Nachmittag hatte er noch gedroht, bei einer Niederlage zu versuchen, Neuwahlen durchsetzen.
Nachdem die Abgeordneten am Samstag einen Antrag des Abgeordneten Oliver Letwin angenommen haben, der vorsieht, dass das Parlament zunächst die Gesetzgebung zur Umsetzung des Abkommens billigt, um einen ungeordneten EU-Austritt ohne Deal auszuschließen, wollte die Regierung bis Donnerstagnacht über die Gesetze, die den Austritt regeln, abstimmen lassen. Nun wurde der straffe Fahrplan gekippt. Johnson-Gegner kritisierten, dass die Regierung das Ratifizierungsverfahren im Eiltempo durchpeitschen wollte, um so eine genaue Überprüfung der Details zu umgehen. „Meine Frau und ich verbringen mehr Zeit damit, ein neues Sofa auszusuchen als Abgeordnete Zeit haben, dieses Gesetz zu debattieren“, monierte etwa der Labour-Parlamentarier Karl Turner.
Es ist ein kompliziertes Prozedere. Am Dienstagabend legte die Regierung dem Parlament die „Withdrawal Agreement Bill“ vor, die nicht mit dem Abkommen zu verwechseln ist. Das mehr als 100 Seiten umfassende Gesetz, das alle Anpassungen enthält, die durch den Brexit notwendig werden, wurde in einer zweiten Lesung debattiert. Beim anschließenden Votum gab die Mehrheit der Abgeordneten ihre Zustimmung – es war ein erster Sieg für Johnson. Es handelt sich implizit um die Willenskundgebung des Unterhauses, den Brexit in jener Form, wie der Premier ihn wünscht, abzusegnen. Aber: Johnson muss trotzdem bangen. Das Parlament mag mit der Billigung das Vorgehen der Regierung sowie den Deal im Kern unterstützen. Doch die Opposition wird Zusatzanträge, sogenannte „Amendments“, anhängen wollen, die den Verlauf des Prozesses wie auch die Gestalt des Brexit grundlegend verändern könnten.
Diese Möglichkeit besteht tatsächlich. Im Verlauf der drei Lesungen könnte die oppositionelle Labour-Partei einen Änderungsantrag einbringen, nach dem Johnsons Deal dem Volk in einem zweiten Referendum zur Bestätigung vorgelegt werden soll. Der Großteil der Sozialdemokraten sowie weitere Parlamentarier wünschen, dass als Alternative zu den Austrittsbedingungen der Regierung der EU-Verbleib auf dem Wahlzettel steht. Ob solch ein Antrag Chancen auf eine Mehrheit hat, wird jedoch bezweifelt. Eher denkbar ist, dass es eine Vorgabe durch das Parlament schafft, nach der das Königreich nach der Scheidung zumindest für eine Übergangszeit in der Zollunion mit der EU verbleiben soll.
Der Premier hat zwar ein offizielles Gesuch gestellt, wollte das Land aber dennoch zum offiziellen Stichtag aus der EU zu führen. Dafür hätte das Parlament am Dienstag die sogenannte „Programme Motion“ annehmen müssen. Dieser Vorlage zufolge sollten alle für den EU-Austritt nötigen Gesetzesanpassungen im Schnelltempo bis Freitag dieser Woche verabschiedet werden. Nach ihrer Ablehnung wird die Verschiebung des Brexit-Datums unausweichlich.
Auch wenn die Brexit-Müdigkeit auf dem Kontinent groß ist, gilt es als höchst wahrscheinlich, dass Brüssel einem Aufschub auf den 31. Januar 2020 zustimmt. „Ein No-Deal-Brexit wird niemals unsere Entscheidung sein“, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstag.