Manasse Allen ist mit seiner Geduld fast am Ende. Seine beiden Nichten sind unter den mehr als 200 in Nigeria entführten Mädchen, die weltweit als „Chibok-Girls“ bekanntwurden. Am Donnerstag war es genau 500 Tage her, dass Kämpfer der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram die überwiegend christlichen Schülerinnen mitten in der Nacht aus dem Schlafsaal ihrer Schule in der Stadt Chibok im nordöstlichen Bundesstaat Borno kidnappten. Einigen Dutzend Mädchen gelang unmittelbar nach der Entführung die Flucht, doch mehr als 200 sind weiter verschollen.
„Es ist wirklich eine sehr schmerzvolle Erfahrung. Es ist traumatisch“, sagt der 45 Jahre alte Allen. Er steht in der Hauptstadt Abuja vor dem Springbrunnen, der die Einheit Nigerias symbolisieren soll. Jede Woche treffen sich hier Mitglieder der Gruppe „Bring Back Our Girls“ (Bringt unsere Mädchen zurück/BBOG), die kurz nach der Entführung der Kinder entstand.
Prominente Unterstützer
Wie Hunderte andere Angehörige hofft auch der 45-jährige Tierarzt, dass zumindest einige der Kinder auch 17 Monate nach ihrem Verschwinden noch lebend gefunden werden. Die Entführung sorgte weltweit für Entsetzen. Viele Prominente bis hin zur US-First Lady Michelle Obama setzten sich für die Freilassung der Mädchen ein. Doch trotz internationaler Hilfe und der Suche des nigerianischen Militärs sind die Mädchen weiter in der Gewalt der sunnitischen Fundamentalisten.
Zeugenberichten zufolge wurden die Mädchen von Boko Haram entweder als Sexsklaven gehalten oder zum Übertritt zum Islam gezwungen und zwangsweise verheiratet. Es wird auch befürchtet, dass einige der Mädchen zu Selbstmordattentaten gezwungen worden sein könnten. Erst am Dienstag riss eine etwa elfjährige Attentäterin in Damaturu im Nordosten Nigerias 15 Menschen in den Tod. Dass die Mädchen selbst 500 Tage nach der Entführung nicht gerettet sind, habe niemand erwartet, sagt Sesugh Akum, ein Sprecher der BBOG-Gruppe. Auch er kommt zu den Treffen am Springbrunnen.
Dort wollen die Aktivisten diese Woche mit zahlreichen Veranstaltungen und Gebeten auf das traurige Jubiläum der 500 Tage aufmerksam machen. Die verhängnisvolle Nacht am 14. April 2013 hat das Leben der betroffenen Familien zerstört. Inzwischen seien in der Stadt Chibok 14 Mütter und Väter der entführten Mädchen gestorben, sagte Yakubu Maina, ein Vertreter der Chibok-Eltern. „Die meisten von ihnen starben an Herzkrankheiten und Folgen der traumatischen Erfahrung.“ Die Familien brauchen etwas, um mit dieser ungeheuren Tragödie gedanklich abschließen zu können, sagen auch die BBOG-Koordinatoren Oby Ezekwesili und Hadiza Bala Usma.
Chancen auf Rettung sinken
Ihre Hoffnung richtet sich nun auf den neu gewählten Präsidenten Muhammadu Buhari. Sein Vorgänger Goodluck Jonathan hatte die Familien tief enttäuscht. Er habe erst zwei Wochen nach der Entführung politisch und militärisch reagiert, sagen sie. Ein Grund für Buharis Sieg bei den Wahlen im März war unter anderem sein Versprechen, Boko Haram zu stoppen. Die Terrorgruppe will im Nordosten Nigerias einen sogenannten Gottesstaat errichten. Seit 2009 sollen den Islamisten dort mehr als 14 000 Menschen zum Opfer gefallen sein.
„Wir können nicht behaupten, Boko Haram besiegt zu haben, solange die Chibok-Mädchen und alle anderen unschuldigen Gefangenen nicht befreit worden sind.
Diese Regierung wird alles in ihrer Macht tun, um sie lebend zu retten“, sagte Buhari bei seiner Amtseinführung im Mai. Doch je mehr Zeit verstreicht, desto geringer sind die Chancen, die Mädchen zu finden. Die BBOG-Mitglieder setzen ihre wöchentlichen Treffen fort, doch selbst ihnen fällt es schwer, zuversichtlich zu bleiben. „Wir können kaum hoffen, dass die Mädchen noch am Leben sind“, sagt Bukola Shonibare, eine der Leiterinnen der Kampagne.
Boko Haram verschleppt weiter Frauen und Mädchen. Ähnlich der kruden Ideologie der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Irak und in Syrien bezeichnen sie die Versklavung andersgläubiger Frauen gar als eine religiöse Pflicht. 2000 Frauen und Mädchen sind Amnesty International zufolge in die Gefangenschaft der Islamisten geraten. Manchmal werden sie sogar gezwungen, ihre eigenen Städte und Dörfer anzugreifen.