Dort ist es“, ruft Andrzej Gaik, und er bemüht sich erst gar nicht, seine Aufregung zu verbergen. „Dort war der Eingang zum Tunnel und dort ist der Zug versteckt.“ Er steht an der Eisenbahnlinie von Breslau nach Walbrzych, dem früheren Waldenburg in Niederschlesien, wo an einer hohen Böschung eine Stelle etwas eingesunken ist.
Nun könnte man sagen, der Mann weiß, wovon er spricht. Gaik ist Touristenführer und hat schon vor 15 Jahren nach dem sagenumwobenen „Nazi-Zug“ voller Gold gesucht, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges irgendwo hier im Westen Polens verschwunden sein soll. Aber stimmt das auch? In dieser Geschichte wollen viele Menschen so einiges wissen. Und nichts ist bislang bewiesen. Klar scheint nur, dass die Geschichte, so oder so, ziemlich unglaublich ist.
An dieser Stelle jedenfalls, da kann Gaik noch so mit dem Finger zeigen, sieht man nichts von einem verschollenen Güterzug und schon gar nichts von Gold, Juwelen oder militärischem Gerät. Man sieht nur unzählige Menschen, die das Goldfieber gepackt hat, hier zwischen den Streckenkilometern 61 und 65. Seit Freitag durchkämmen immer mehr Polen und inzwischen auch ausländische Touristen die Gegend.
Hobby-Schatzsucher, die ähnlich aufgeregt sind wie Andrzej Gaik. Und das alles, weil Polens oberster Denkmalschützer an diesem Tag einen entscheidenden Satz gesagt hat: dass sich in einem unterirdischen Tunnelsystem in Niederschlesien „mit 99-prozentiger Sicherheit“ ein gepanzerter Zug aus dem Zweiten Weltkrieg befindet.
Zug soll über 100 Meter lang sein
So beginnt die Geschichte bei eben diesem Piotr Zuchowski, der zugleich Staatssekretär im Kultusministerium ist. Er habe ein Georadarbild eines unterirdisch stehenden Zuges mit über 100 Meter Länge gesehen, sagt er. Möglicherweise befindet sich wertvolle Fracht darin. Das behaupten zumindest die angeblichen Entdecker, ein Deutscher und ein Pole, die von „Edelmetallen, Wertgegenständen und Industriematerialien“ sprechen.
Und noch etwas sagt Zuchowski: dass ihm ein Bekannter auf dem Sterbebett persönlich gebeichtet habe, dass es diesen Zug wirklich gibt. Schon wird spekuliert, dessen Vater oder Großvater könnte zu den Männern gehört haben, die einst den Zug versteckten und ihr Geheimnis nur in der Familie weitergegeben haben.
Nun ist die Aufregung also riesengroß. Weil die Behörden und die Entdecker den genauen Fundort geheim halten, machen sich viele auf eigene Faust auf die Suche. Mittlerweile sind so viele Schatzsucher und neugierige Touristen in der Stadt mit ihren 120 000 Einwohnern angekommen, dass immer mehr Polizisten in dem betroffenen Waldgebiet patrouillieren. Für das Überqueren der Bahngleise drohen 500 Zloty Strafe, umgerechnet 125 Euro.
"Loch-Ness-Effekt"
Die ganze Gegend wittert gute Geschäfte. Auch das stattliche Schloss Fürstenstein. Es sei „wie ein Loch-Ness-Effekt“, sagt der Vorsitzende der Schlossgesellschaft, Krzysztof Urbanski. „Niemand hat das Monster gesehen, aber es zieht die Leute an.“ Ab nächster Woche können Touristen dort Goldzug-T-Shirts kaufen. Sondertouren zum angeblichen Brennpunkt des Geschehens werden schon seit dem Wochenende angeboten. Im Logo, wie könnte es anders sein, prangt ein funkelnder Zug.
Die Aufregung ist aber auch andernorts spürbar. In russischen Medien werden schon Ansprüche auf den Inhalt des Zuges angemeldet. Die Sowjetunion habe zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gehört und mögliche Raubgüter aus ihrem Staatsgebiet gehörten Russland, heißt es. Ähnlich äußert sich der Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses, Robert Singer: „Sollten Gegenstände gefunden werden, die Juden gestohlen wurden, bevor sie in die Todeslager oder zur Zwangsarbeit deportiert wurden, muss alles unternommen werden, um sie den Opfern beziehungsweise ihren Erben zurückzugeben.“ Denkmalschützer Zuchowski wiederum macht umgehend klar, dass der Zug samt Inhalt „dem polnischen Staatschatz gehöre“, sofern sich keine rechtmäßigen Besitzer melden sollten.
Doch gibt es überhaupt etwas zu verteilen? Immer mehr Experten und regionale Politiker zweifeln die Existenz des Zuges an. Vertreter der Historischen Gesellschaft Niederschlesiens etwa glauben nicht an die Echtheit der angeblichen Beweisbilder, die bislang nicht publik gemacht wurden.
Das regionale Parlament beraumte gar eine Krisensitzung zu dem Thema an. Fazit des regionalen Regierungsvertreters Tomasz Smolarz: „Auf der Basis der vorgelegten Dokumente kann man nicht feststellen, ob der Fund bestätigt werden kann.“ Stimmen werden laut, die Informationspolitik Zuchowskis sei dilettantisch und schaffe nur Probleme.
Eigentlich ist die Nachricht von dem geheimnisvollen Fund schon länger in der Welt. Doch die Geschichte nimmt erst Fahrt auf, als vergangene Woche der Stadtrat von Walbrzych bestätigt, dass zwei anonyme Entdecker über ihren Anwalt den genauen Standort eines 120 bis 150 Meter langen Zuges benannt haben. „Der Fund befindet sich auf dem Stadtgebiet von Walbrzych, den genauen Ort kann ich ihnen natürlich nicht nennen“, sagt Vize-Bürgermeister Zygmunt Nowaczyk.
Zwei Tage später legt Zuchowski nach. Er warnt die nach Walbrzych strömenden Goldsucher eindringlich vor Risiken. Sollte der Zug tatsächlich existieren, könnte er vermint sein. Auch deshalb sichert die Polizei das Gebiet so intensiv ab.
Bleiben die entscheidenden Fragen: Kann es den sagenumwobenen Zug wirklich geben? Und wenn ja, könnten sich Gold oder andere wertvolle Gegenstände darin befinden? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Seit Jahrzehnten wird die Legende befeuert. In den 1970er Jahren etwa spürten polnische Filmemacher den ehemaligen deutschen Bankwächter Herbert Klose aus Breslau auf.
Er erzählte davon, dass die Nazis gegen Kriegsende Gold aus Banken, aber auch von Juwelieren und Privatpersonen sammelten und mit einem Zug wegschafften. Nach anderen Berichten soll der Zug auch wertvolle Kunstwerke, ja gar Teile des legendären Bernsteinzimmers an Bord gehabt haben und von der SS in einen unterirdischen Komplex im Berg Sobiesz im Riesengebirge deponiert worden sein. Legenden? Märchen? Oder doch eine Sensation?
Fundort keine Überraschung
Sollte tatsächlich ein Zug entdeckt werden, wäre der Fundort Walbrzych keine Überraschung. Die einstige Bergbaustadt hat etliche unterirdische Stollen, darunter solche, die von Nazis unter dem Codenamen „Riese“ gezielt errichtet wurden, um dorthin Teile der Waffenproduktion zu verlegen und sie vor Bombardierungen zu schützen. Ein Zug könnte also dort hineingesteuert und die Zufahrtsstrecke anschließend gesprengt worden sein. Einige dieser Stollen sind heute für Touristen geöffnet. Viele aber eben nicht. Und genau diese ziehen nun die Schatzsucher an.
Und wie sehen das deutsche Forscher? Ein Anruf bei Thomas Müller. Er ist Historiker im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt. Also: Könnte solch ein Nazi-Zug noch immer in einem verschütteten Tunnel in Polen stehen? Er sagt: „Das wäre denkbar.“ Die Nazis hätten wohl bis zum unausweichlichen Ende an einen Endsieg geglaubt. Deswegen habe niemand wissen können, ob das Gebiet nicht doch in deutscher Hand bleibt.
„Schlesien galt auch als sicherer Ort.“ Zum anderen habe das schnelle Vorrücken der Roten Armee die Deutschen überfordert. „Und theoretisch ist ein Tunnel ein sicherer Ort zur Aufbewahrung: Der Zug kann sich in gewissem Maße schützen und er ist vor Luftangriffen sicher.“ Vermutlich sei er in den Kriegswirren einfach in Vergessenheit geraten - „sollte er denn existieren“.
Die anonymen Entdecker jedenfalls sollen auf Tauchstation gegangen sein, weil offenbar Angaben zu ihrer Person durchgesickert sind. Die beiden hoffen auf einen gesetzlich festgelegten Finderlohn in Höhe von zehn Prozent. Doch sollte der Zug tatsächlich geborgen werden, dürfte es schwierig sein, den Wert überhaupt zu taxieren. „Der historische Wert ist sicherlich größer als der materielle“, sagt Rechtsanwalt Jaroslaw Chmielewski. Er vertritt die beiden Männer. Und räumt am Ende ein, dass es sich bei dem Fund durchaus um etwas anderes als den legendären Nazi-Zug handeln könnte.
Mythos Nazi-Schatz
- Das Bernsteinzimmer: Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. schenkte die kostbar geschnitzten Wandtäfelungen aus Bernstein 1716 dem russischen Zaren. Deutsche Soldaten brachten den legendären Prunkraum 1942 nach Königsberg, seit 1945 ist er verschollen. Seitdem kursieren viele, oft abenteuerliche Theorien über seinen Verbleib.
- Burg Falkenstein: Seit Jahrzehnten hält sich hartnäckig das Gerücht um einen vergrabenen Nazi-Goldschatz an der geheimnisumwitterten Ruine im Allgäu. Versuche, den Schatz zu finden, blieben aber bis heute erfolglos.
- Das Gold im Alatsee: Im Alatsee bei Füssen sollen die Nazis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kistenweise Vermögen der Deutschen Reichsbank versenkt haben.
- Sogar die Rothschild-Juwelen sollen Erzählungen zufolge am Grund des Sees schlummern. Tatsächlich haben die Nazis 1945 (Raub-)Kunstschätze auf dem nahen Schloss Neuschwanstein gehortet. Vieles davon stellten die Amerikaner später sicher, aber eben nicht alles. Im Alatsee wurde trotz unzähliger Tauchgänge jedenfalls nichts gefunden.
- Goldrausch im Erzgebirge: Hunderte Journalisten aus aller Welt strömten im Februar 2008 nach Deutschneudorf in Sachsen. Ein Hobby-Schatzsucher hatte im Nachlass seines Vaters Koordinaten für ein angeblich unterirdisches Gold-Depot der Nazis gefunden. Doch die Suche wurde erfolglos abgebrochen.
- Der Schatz im Toplitzsee: Waffen, Munition und Falschgeld aus der Nazi-Zeit wurden aus dem kleinen Gewässer im Salzkammergut (Österreich) schon in den 50er Jahren geborgen. Die Nazis hatten dort eine geheime Marineversuchsstation betrieben. Ein US-Taucherteam scheiterte im Juli 2000 jedoch bei der Suche nach Kisten, die Gerüchten zufolge Listen mit Milliardenkonten von Nazibonzen in der Schweiz enthalten sollen.
- Kein Schatz im Stolpsee: Ohne Erfolg ging im November 2013 die Suche nach einem angeblichen Nazi-Schatz im Stolpsee (Brandenburg) zu Ende. Der Legende nach hatte Reichsmarschall Hermann Göring dort im Frühjahr 1945 Gold und Platin versenken lassen, um die geraubten Reichtümer vor den anrückenden Sowjets zu retten. Text: dpa/AZ