Erwachsene und Lehrer lassen sich zu viel gefallen, sagt Schulmediator Axel Becker. Um Gewalt vorzubeugen, bräuchten junge Leute klare Ansagen.
Frage: Herr Becker, Sie beschreiben in Ihrem Buch „Die Toleranzfalle“ eine Szene, wie Jugendliche gegen einen Papierkorb treten, so dass sich der Abfall auf den Boden ergießt. Ältere Leute, die in der Nähe sind, schauen pikiert weg, Eltern mit Kindern sind unschlüssig, wie sie reagieren sollen. Keiner hat eingegriffen. Sie haben die Szene aus dem Auto heraus beobachtet. Was bedeutet dieses Nichtreagieren der Erwachsenen für das künftige Verhalten der Jugendlichen?
Axel Becker: Wird ein solches Fehlverhalten nicht begrenzt, dann heißt das für sie: Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, was wir machen. In diesem Fall war es ein ganz bewusstes Austesten vor Eltern mit Kindern und ganz vielen anderen Erwachsenen, so nach dem Motto: Jetzt zeigen wir denen mal, dass wir das machen können. Das Bemerkenswerte war die Hemmungslosigkeit, mit der die Jugendlichen ihre Absicht in die Tat umsetzten, ohne auch nur irgendeinen Widerstand zu erwarten.
Becker: Richtig wäre gewesen, dass sich mehrere Erwachsene verständigen und zusammentun, um zu sagen: Halt, so geht das nicht!
Becker: Bei Erwachsenen hat man häufig den Eindruck, dass sie mit einem solchen Verhalten überhaupt nicht einverstanden sind, aber gleichzeitig die erziehende Rolle meiden. Auch fürchten sie, bei Konflikten den Kürzeren zu ziehen. So sind Aussprüche bei Jugendlichen gängig, wie „Fass mich nicht an, du hast mir gar nichts zu sagen. Und wenn du mich anfasst, dann komme ich mit meinem Rechtsanwalt“. Diese Verunsicherung führt dazu, dass Erwachsene sich zurückhalten. Das bezeichne ich auch als „Toleranzfalle“. So wird bei sprachlichen Entgleisungen zum Beispiel Toleranz gezeigt, indem Beleidigungen hingenommen werden, weil Erwachsene sagen: Na ja, das ist heute die Sprache. Doch gerade hier wäre es wichtig, eine Grenze aufzuzeigen, damit Jugendliche wissen, dass es so nicht geht.
Becker: Zunächst müsste die Schule als Ganzes klarmachen, dass tätliche Gewalt gegen Lehrer in keinem Fall toleriert wird. Wenn es sich um sprachliche Gewalt handelt, dann sieht es anders aus. In meinen Seminaren mit Lehrern habe ich häufig diese Unsicherheit erlebt: Das hat sich schon so eingebürgert, da haben wir nicht viel Einfluss, wenn die einen beschimpfen. Wenn sich Schüler in einer Schule untereinander verbal niedermachen und niemand geht dagegen vor, dann geht es in einem nächsten Schritt gegen die Lehrer. In einer Umfrage haben Jugendliche angegeben, dass sie die Sprache bei der „Deutschland-sucht-den-Superstar“-Show, dieses Niedermachen, als ehrlich empfinden. Wenn gegenseitige Diskriminierung als ein Wert verstanden wird, dann ist das ein großes Problem.
Becker: Er könnte sagen: „Was du gerade gesagt hast, hat Konsequenzen. Wenn der Unterricht vorbei ist, nach der Stunde, bleibst du hier und wir reden.“ Der Lehrer könnte danach auch mit dem Schüler zum Rektor gehen und sagen: „Wiederhol‘ mal, was du gerade gesagt hast.“ Der Schüler muss Konsequenzen spüren.
Becker: Ja, in klarem, eindeutigen Ton. Es kann ja sein, dass dem Schüler irgendwas querging, was gar nichts mit dem Lehrer zu tun hat, dass er zu Hause Ärger hatte. Aber er geht gegen den Lehrer vor und da ist Verständnis nicht angebracht. Wenn man merkt, dass ein Schüler voller Wut ist, dass er immer so spricht oder andere anmacht, dann kann man auch in einer anderen Situation mit ihm ein Gespräch vereinbaren und sagen: „Pass mal auf, was ist eigentlich mit dir los, was hast du für Probleme?“ Aber in dieser Situation geht es nur knallhart: „Du hast gerade eine Regel gebrochen, so spricht man nicht mit Erwachsenen, wir haben jetzt ein gemeinsames Gespräch.“ Wenn er so etwas häufiger macht, dann kann man auch die Eltern mit einbeziehen.
Becker: Es gibt Projekte mit straffälligen Jugendlichen, die ein halbes Jahr und länger als Alternative zur Jugendhaft auf ein Schiff müssen. Auf einem Großsegler kann nicht jeder machen, was er will. Es ergibt sich eine natürliche Autorität. Da muss man sich unterordnen. Wenn einer nach vorne geschickt wird auf das Vorschiff, und der Kapitän sagt, du musst dich anleinen, weil dort die Wellen sehr gefährlich sein können, und der Junge nicht gehorcht, dann darf er nicht mehr an Deck arbeiten, sondern muss in die Kombüse und Töpfe scheuern. In der Schule hat der Lehrer die Autorität inne, dass er sagen kann, wie der Unterricht verläuft, was gemacht wird und wie man sich zu verhalten hat.
Becker: Meiner Ansicht nach war das zentrale Problem, dass die Lehrer keine Unterstützung bekommen haben und eine Schülerklientel hatten, mit der sie nicht umgehen konnten. Dort gab es viele Schüler mit arabischem Hintergrund, die andere Autoritätsverhältnisse gewohnt waren und eine solche härtere Gangart durch ihr Verhalten auch einforderten. Das fanden sie nicht vor. Also interpretierten sie dieses Verhalten der Lehrer als Schwäche und hauten ordentlich auf den Putz.
Becker: Das ist für Frauen sehr schwer. In meinen Seminaren zur Gewaltprävention saßen fast ausschließlich Frauen. Die Autoritätsverweigerung dieser Schüler darf man nicht zulassen und muss sofort gegensteuern.
Wenn ein Schüler eine Lehrerin als „Du alte Fotze“ beschimpft, was durchaus vorkommt, dann kann man die Eltern mit einbeziehen, indem man sagt: „Wir rufen jetzt mal bei dir zu Hause an und dann kannst du das am Telefon wiederholen und hören, was deine Eltern dazu sagen.“ Wenn man allerdings weiß, dass die Eltern schlagen, sollte man so nicht agieren. Der ganze Schulapparat muss hier auffahren: Der Schüler muss zum Rektor, sich dort rechtfertigen auf die Frage: „Wieso sagst du so was? Sagst du das auch zu Hause zu deiner Mutter?“ Ein Problem ist unser tolerantes Verhalten. Wir sehen vieles nach, was man nicht nachsehen darf.
Becker: Mit dem Grundschüler sollte man im Prinzip ähnlich umgehen wie mit einem älteren Jugendlichen. Grenzen aufzeigen und vor allem positive Verhaltensalternativen erarbeiten und einüben. Die Schule muss drei Sachen sicherstellen: Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung.
Becker: Sicherheit schafft man durch klare Regeln, die eingehalten werden müssen. Ideal sind soziale Trainingsräume. Dorthin werden Schüler geschickt zu einer Aufsicht mit einem Zettel, auf dem steht, was sie gemacht haben. Dort wird dann geübt, wie sie sich verhalten können, damit das nicht mehr vorkommt. Das Kind hat anschließend die Möglichkeit, sich mit dem zu bewähren, was es dort besprochen hat. Das Gefühl von Zugehörigkeit lässt sich durch gemeinsame Rituale schaffen: Ein Gesprächskreis zum Beispiel mit festgelegten Rollen für jeden Schüler.
Becker: Man sollte da, wo sich Verhalten zum Positiven ändert, auch loben. Wenn es Regeln, Rituale und Lob gibt, muss man dem Schüler die Chance zur Veränderung geben. Früher gab es die schwarze Pädagogik: Wer einmal als ,schlecht‘ galt, blieb für immer so.
Becker: Das ist unterschiedlich. Wir haben einmal einen Fall gehabt, da war Unterrichten kaum möglich, weil er die ganze Klasse aufgemischt hat. Das kann man sich schwer vorstellen. Er kam in die Klasse, warf ständig mit sexistischen Ausdrücken um sich. Im Grunde müsste er bei jeder Bemerkung gleich einen Hinweis kassieren. Dazu bräuchte er einen Schulhelfer, der sofort interveniert. Der muss merken, das ist beschwerlich, das ist unangenehm, wenn ich so etwas mache. Ihm muss nur klargemacht werden, wenn du dich gut verhältst, hast du auch alle Freiheiten. Wenn nicht, folgen Sanktionen. Und die sind unangenehm.