Kinder planschen mit ihren bunten Schwimmreifen in den Wellen. Erwachsene liegen im Sand und sonnen sich. Ein typischer Sommertag am Meer, wie es scheint. Doch die Idylle trügt, denn es ist nicht irgendein Strand, wie das blaue Schild zeigt: „Welcome to Fukushima“ ist dort zu lesen. Nur 65 Kilometer weiter nördlich liegt das japanische Atomkraftwerk, das nach einem Erdbeben mit Tsunami vor 16 Monaten eine dreifache Kernschmelze erlebte und die Welt in Angst und Schrecken versetzte.
Der Nakoso-Strand in Iwaki ist der erste und auch der einzige, den die Behörden Japans nach der Atomkatastrophe in der Präfektur Fukushima wieder geöffnet haben – trotz der Sorgen um die Strahlung in der Gegend. Früher hat der Strand mit seinem weißen Sand und der üppigen Vegetation rundherum im Hochsommer Urlauber in Scharen angezogen. An diesem Tag sind aber kaum mehr als 200 Badegäste zu sehen. Viele Kinder sind allerdings darunter.
„Wenn wir uns ständig wegen der Strahlung Sorgen machen würden, könnten wir gar nichts mehr unternehmen“, sagte eine Frau, die ihre zwei Jahre alte Tochter im Arm hält. Daheim hätten sie es nicht mehr ausgehalten, deshalb sei sie mit der Familie an den Nakoso-Strand gefahren. Es sei eben der nächstgelegene. „Wir essen auch Gemüse, das wir in unserem Garten pflanzen, und die Kinder gehen im Pool ihrer Schule schwimmen.“
Radioaktivität in der Luft
Eine junge Frau in den Zwanzigern, die mit Freunden am Strand liegt, wundert sich über die wenigen Besucher. „Über die Radioaktivität haben wir gar nicht nachgedacht“, erzählt sie. „Die Strahlungswerte hier sind viel niedriger als bei uns“, meint indes ein Rentner, der aus Naraha, einem der Sperrgebiete um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, stammt. Er ist mit seinen zwei Enkelinnen an den Strand gekommen.
Die Radioaktivität in der Luft liegt an diesem Tag laut den offiziellen Messungen tatsächlich weit unter den als gesundheitsgefährdend geltenden Werten und sogar unter dem Niveau der natürlichen Strahlung in vielen Ländern. Es sei unbedenklich, im Meer zu baden, sagen die örtlichen Behörden. Wie hoch die Strahlung im Wasser ist, verraten sie aber nicht.
Etwas abseits vom Strand, im Unterholz, hat eine örtliche Umweltgruppe höhere Werte festgestellt, wie ein Beamter der Stadtverwaltung bestätigt. Es sei aber nicht geplant, die Gegend abzusperren. Die Ängste der Menschen will er allerdings auch nicht einfach abtun. „Die Stadt hat den Strand zwar wiedereröffnet, aber jeder muss sich sein eigenes Urteil bilden.“
„Wer sich wegen der Strahlung Sorgen macht, kommt ohnehin nicht hierher“, meint der Beamte. Und das sind recht viele. Seit der Atomkatastrophe habe sie nur wenige Buchungen gehabt, bedauert die Besitzerin eines Gästehauses. „Im Sommer waren die Parkplätze sonst voll, und die Hotels wurden mit Übernachtungsanfragen überhäuft.“ Inzwischen haben aber Zehntausende aus Furcht vor den Auswirkungen der Strahlung die Präfektur Fukushima verlassen.
Die Forscherin Mikiko Watabanabe von der Anti-Atomkraft-Initiative CNIC kritisiert das Vorgehen der Behörden. „Ich halte es für fragwürdig, dass trotz der Strahlung in der Region der Strand wiedereröffnet wurde und dass es Kindern erlaubt wird, die Schulschwimmbäder zu nutzen.“
Nach der Kernschmelze hatte der Fukushima-Betreiber Tepco rund 11 500 Tonnen radioaktiv verseuchte Abwässer in den Pazifik geleitet. Ein Aufschrei ging damals um die Welt. Auch örtliche Fischer protestierten. Die meisten von ihnen haben ihre Tätigkeit bislang nicht wieder aufnehmen können. In der Presse ist davon heute aber kaum noch etwas zu lesen. Bürgerinitiativen werfen den Medien vor, zu unkritisch zu sein und den Behörden nach dem Mund zu reden.
Kinder in Sicherheit bringen
Die Wiederöffnung des Strandes sei Teil einer Kampagne von Regierung und Medien, um das Image eines heilen Fukushima zu vermitteln, klagt Seiichi Nakate vom Netzwerk zum Schutz von Kindern vor Strahlung. Die Organisation hat – vergeblich – an die Regierung appelliert, alle Kinder aus der Region in Sicherheit zu bringen. Nun wendet sich das Netzwerk an die internationale Gemeinschaft: „Was hier geschieht, ist nicht nur übel, sondern gefährlich und unmenschlich.“
Zulauf für Anti-AKW-Bewegung in Japan
Trotz verstärkter Sicherheitsbestimmungen nach der Atomkatastrophe von Fukushima sind die japanischen Atomkraftwerke womöglich nicht ausreichend gegen Erdbeben und Tsunamis geschützt. Zu diesem Schluss kam kürzlich eine von der Regierung eingesetzte Untersuchungskommission. Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass es keinen Beweis dafür gebe, dass das Erdbeben die Hauptursache der Atomkatastrophe war. Aber sein Einfluss könne auch nicht ausgeschlossen werden. Damit widersprechen die Experten dem Betreiber Tepco, der nur die Flutwelle verantwortlich macht. Durch diese und eine weitere Studie, die davon ausgeht, dass die Katastrophe vermeidbar gewesen wäre, weil sie das Ergebnis von Verwirrung zwischen Regierung, Aufsichtsbehörden und Tepco sowie einem Mangel an Führung gewesen sei, erhält die Anti-AKW-Bewegung in Japan großen Zulauf: Über 100 000 Atomkraftgegner gingen auf die Straße, um gegen die Wiederinbetriebnahme zweier Meiler in Japan zu protestieren. Zehntausende Japaner hatten Ende Juli das Parlament in Tokio umzingelt, um gegen die zivile Nutzung der Kernenergie zu demonstrieren. Das rund 240 Kilometer nördlich der Hauptstadt Tokio gelegene AKW Fukushima II war im März vergangenen Jahres von einem gewaltigen Erdbeben und einem verheerenden Tsunami getroffen worden. Die Stromversorgung wurde unterbrochen, die Notstromversorgung überschwemmt. Daraufhin fiel das Kühlsystem aus, und in drei der sechs Reaktoren des AKW kam es zur Kernschmelze. 150 000 Menschen mussten vor der Radioaktivität in Sicherheit gebracht werden. TEXT: DPA/RTR