Einen Tag nach dem Vorwurf der Familie von Mohammed Mursi, der gestürzte Präsident sei von Ägyptens Militär gekidnappt worden, ist die Gewalt in Kairo erneut eskaliert. Bei Krawallen zwischen Mursi-Gegnern und Mursi-Befürwortern am Dienstagmorgen starben nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens neun Menschen, über 80 wurden verletzt. Beide Seiten setzten Messer, Pistolen und Schrotgewehre ein. Am Abend zuvor hatte der ägyptische Übergangspräsident Adly Mansour die Bevölkerung eindringlich zur Versöhnung aufgerufen.
„Es ist höchste Zeit, sich zusammenzufinden und miteinander auszusöhnen, um eine Nation ohne Rache und Hass aufzubauen“, erklärte Mansour in seiner Fernsehansprache und beschwor seine Landsleute, Ägypten müsse ein neues Kapitel in seiner Geschichte aufschlagen. Mursis Familie dagegen erhob schwere Vorwürfe gegen die Armee. „Wir klagen Abdel Fatah al-Sissi und die anderen Putschführer an, den Bürger und Präsidenten Mohammed Mursi entführt zu haben“, sagte Mursis Sohn Osama in Kairo und bezeichnete den ägyptischen Armeechef als „internationalen Kriminellen“.
Auch aus dem westlichen Ausland werden die Rufe lauter, Mursis Arrest zu beenden. Die Außenminister der Europäischen Union forderten in einer gemeinsamen Erklärung ausdrücklich „die Freilassung aller politischen Häftlinge, Mohammed Mursi eingeschlossen“. Zugleich verlangten sie erneut Wahlen und den Übergang zu einer zivilen Regierung in Ägypten. Auch die Vereinigten Staaten forderten ein Ende aller politisch motivierten Festnahmen und Inhaftierungen. „Wenn ich das sage, schließt das auch Präsident Mursi mit ein“, fügte der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney, hinzu.
Mursi war am 3. Juli nach Massenprotesten gegen seine islamistische Herrschaft vom Militär gestürzt worden. Seitdem halten ihn die Generäle „zu seiner eigenen Sicherheit“ an einem unbekannten Ort und ohne formelle Anklage in Haft. Weder Angehörige noch Anwälte hatten in den letzten drei Wochen Zugang oder Kontakt zu ihm. Die Familie wolle nun juristisch gegen die Gefangennahme vorgehen, sagte Mursis Tochter Shaimaa. Man wolle zudem erreichen, dass sich internationale Menschenrechtsorganisationen und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag mit dem Fall befassten.
Die Ausschreitungen am Dienstag konzentrierten sich vor allem auf die Viertel um den Tahrir-Platz und den Ennahda-Platz, wo die Muslimbrüder ähnlich wie bei der Rabaa Adawiya Moschee in Nasr City seit dem Sturz Mursis lagern. Die Straßen haben sie mit Barrieren aus Steinen und Sandsäcken abgesperrt. Videos zeigen junge Männer, die von den Rändern des Platzes, der gegenüber dem Zoo von Kairo liegt, mit Schrotflinten auf das Lager der Pro-Mursi-Anhänger feuern. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die beiden Seiten zu trennen. Das Oppositionsbündnis „Nationale Rettungsfront“ beschuldigte die Muslimbrüder, für die wachsenden Spannungen verantwortlich zu sein.