Angela Merkel ist eine mutige Frau. Aber nur, wenn es unbedingt sein muss. Es gibt da diese Geschichte aus ihrer Kindheit. Als sie im Schwimmunterricht vom Drei-Meter-Brett springen soll. Sie hat sich hinauf getraut, immerhin. Nur das mit dem Runterspringen ist ihr nicht geheuer. Und so steht da oben also ein Mädchen, das nicht weiß, was es tun soll. Das minutenlang abwägt und wartet. Bis es fast zu spät ist und der Lehrer die Stunde beendet. Erst jetzt fasst die Schülerin einen Entschluss. Sie springt. Im allerletzten Moment. Nun sollte man in solche Kindheitserinnerungen nicht zu viel hineinpsychologisieren. Und doch sagt die kleine Episode viel aus über den Menschen Angela Merkel – und über die Art, wie sie viele Jahrzehnte später Politik macht.
Die meisten Deutschen halten die Frau im Hosenanzug, deren größte Extravaganz die wechselnde Farbe des Blazers ist, für ziemlich langweilig. Doch gerade das mögen viele an ihr. Je unberechenbarer Donald Trump agiert, je aggressiver Recep Tayyip Erdogan und Kim Jong Un auftreten, desto verlässlicher wirkt diese biedere, skandalfreie Regierungschefin. Das ist die eine Seite. Doch seit Beginn der Flüchtlingskrise gibt es eben auch diese andere Seite: den Hass.
Jubel im Bierzelt und Pfiffe draußen
Nie hat die CDU-Chefin so polarisiert wie im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft. Im Wahlkampf bekommt sie das jeden Tag zu spüren. Da sind die Bierzelte in Bayern, wo sie sogar von den CSU-Leuten inzwischen wieder bejubelt wird. So wie am Dienstag in Augsburg. Lange Warteschlangen vor dem Eingang, Einzug ins rappelvolle Zelt mit Defiliermarsch, junge Menschen, die Schilder hochhalten, auf denen „Voll muttiviert“ steht. Und dann erzählt die Kanzlerin, was ihre Regierung alles erreicht hat, lobt die anwesenden Lokalpolitiker, die sich stolz im Glanz der Chefin sonnen. Dann wird sie selbst noch ein bisschen gelobt und bekommt einen Blumenstrauß. Zum Abschluss die Bayernhymne und alle fühlen sich irgendwie gut.
Da sind aber auch diese anderen, die düsteren Momente. In Augsburg dringen die Pfiffe und „Merkel-Muss-Weg“-Rufe der Unzufriedenen nur von draußen ins Zelt. In vielen Städten Ostdeutschlands schlägt Merkel aber auf offener Bühne abgrundtiefer Hass entgegen. So wie in Finsterwalde oder in Bitterfeld. „Hau ab!“, brüllen dort Hunderte Menschen, „Volksverräterin!“ oder „Merkel in den Knast!“ Ihre Stimmen überschlagen sich vor Wut.
Manchmal fliegen neben Worten auch Tomaten auf die Bühne. Und da steht die mächtigste Frau der Welt nun und wirkt wie das Mädchen damals, auf dem Sprungturm im Schwimmbad.
Angela Merkel hat sich immer im Griff
Wie soll sie mit diesen Anfeindungen umgehen? Soll sie überhaupt auf die Pöbler reagieren? Angela Merkel tut erst mal das, was sie in solchen Situationen meistens tut: Sie macht einfach mal weiter, spult scheinbar ungerührt ihr Programm ab und wartet, was passiert. Das kann man als Schwäche empfinden. In Wahrheit ist es wahrscheinlich ihre größte Stärke: Diese Frau hat sich einfach immer im Griff. Ob ihr der amerikanische Präsident vor den Augen der Welt den Handschlag verweigert. Ob Horst Seehofer sie in aller Öffentlichkeit provoziert oder ihr eine „Herrschaft des Unrechts“ unterstellt. Ob der Spitzenkandidat der AfD sie als „Kanzlerdiktatorin“ bezeichnet oder der türkische Präsident sie mit den Nazis vergleicht. Merkel hat sich im Griff. Manchmal kontert sie mit einem Lächeln, das zu sagen scheint: Ach, lass sie doch spielen. Manchmal weist sie solche Attacken immerhin „entschieden“ zurück. Meistens aber lässt sie die Angriffe einfach ins Leere laufen – was ihre Gegner mutmaßlich am meisten trifft.
Merkel wird zur Frau mit dem Feuerlöscher
Regieren mit der Raute, nennen ihre Gegner das abschätzig. Aber ein bisschen Ehrfurcht scheint auch mitzuschwingen. Seit über einem Jahrzehnt fährt Merkel auf Sicht. Es ist mehr ein Reagieren als ein Agieren. Oft bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig. Denn sie hat es mit so vielen Krisen zu tun wie keiner ihrer Vorgänger. Merkel wird zur Frau mit dem Feuerlöscher. Finanzkonzerne lösen durch ihre Zockerei einen Flächenbrand aus, der ganze Staaten erfasst. Am Ende steht sogar der Euro im Feuer. Millionen Menschen fliehen vor Krieg und Bomben, vor Hunger, vor Hoffnungslosigkeit. Und während sie also einen Brand nach dem anderen austritt, so gut es eben geht, wächst eine Generation heran, die sich an eine Zeit vor Merkel gar nicht mehr erinnern kann.
Wer am 24. September zum ersten Mal wählen darf, hatte gerade den ersten Schultag, als diese Kanzlerin Gerhard Schröder ablöste. Doch anders als die Generation Kohl, die sich 1998 nach den müden letzten Jahren des Einheitskanzlers nach Aufbruch sehnte, scheint es sich die Generation Raute ganz gemütlich eingerichtet zu haben im Merkel-Land. Wie keine andere Partei greift die CDU dieses Lebensgefühl im Wahlkampf auf.
„Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, steht auf ihren Plakaten. Sie hätte auch draufschreiben können: „Macht euch keine Sorgen, Angie kümmert sich schon.“
Noch vor zwei Jahren schien alles am Ende
Dabei ist es keine zwei Jahre her, da schien es so, als ginge die Zeit der ersten deutschen Kanzlerin zu Ende. In der Flüchtlingsfrage tut sie etwas, was sie sonst nie getan hat. Als Tausende Menschen in Ungarn unter erbärmlichsten Bedingungen um Hilfe bitten, entscheidet die sonst so rationale Regierungschefin emotional. Es ist die mutigste und umstrittenste Entscheidung der Ära Merkel. Und es ist der Beginn ihrer schwersten Krise. In den Umfragen stürzt die Union immer weiter ab, während die AfD bei Landtagswahlen einen Triumph nach dem anderen feiert. Die CSU wird zum erbitterten Gegner der eigenen Kanzlerin. Wie so oft macht Merkel Politik für den Augenblick. Doch dieses Mal erwarten die Leute Antworten über den Tag hinaus. Antworten, die sie nicht geben kann.
Anfang 2016 schätzt der Politikberater Michael Spreng die Chancen, dass Merkel Ende des Jahres noch im Amt ist, auf 50:50. „Mit ihrer humanitären Linie in der Flüchtlingspolitik ist sie voll ins Risiko gegangen. Das war höchst ungewöhnlich für sie“, sagt er rückblickend im Gespräch mit unserer Redaktion. Am Ende hat sie ihr politisches Überleben auch CDU-Alphatieren wie Wolfgang Schäuble oder Volker Kauder zu verdanken. Trotz großer eigener Bedenken bleiben sie selbst dann noch loyal, als es immer einsamer um Merkel wird. „Wenn die beiden sich gegen sie gestellt hätten, wäre es richtig eng geworden“, ist Spreng überzeugt.
Nach allen Stürmen scheint die 63-Jährige mit sich im Reinen
Dass Merkel heute die Umfragen wieder so souverän anführt, hat vor allem damit zu tun, dass in den Monaten danach viel weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Dass die CSU ihr Dauerfeuer gerade noch rechtzeitig zum Wahlkampf einstellt und die SPD sich irgendwie selber im Weg steht.
Doch für Spreng kommt noch ein entscheidender Punkt hinzu: „Frau Merkel hat die CDU konsequent modernisiert, noch mehr in der gesellschaftlichen Mitte positioniert und in der Flüchtlingspolitik eine Strahlkraft weit über das eigene Lager hinaus gewonnen.“ Und wenn ihr dafür gleichzeitig konservative Wähler davonlaufen? Wenn sie aufs Übelste beschimpft wird? Wenn ihr die eigenen Leute eine Sozialdemokratisierung der Partei vorwerfen? Dann ist das der Preis, den sie in Kauf nehmen muss. Nach all den Stürmen scheint die 63-Jährige mit sich im Reinen zu sein. Wer sie in diesem Wahlkampf beobachtet, erlebt eine Frau, deren Gelassenheit ansteckend ist. Natürlich wirkt es immer ein bisschen muttihaft, wenn sie sich mit Bürgern unterhält – sogar dann, wenn diese älter sind als sie selbst.
Blumen und ein Bad in der Menge in Bad Kissingen
So wie neulich in Bad Kissingen. Da wird sie von Altbürgermeister Wolfgang Back aus Bad Bocklet zur Begrüßung im Trubel auf der Straße mit einem Blumenstrauß überrascht. Die Kanzlerin hält inne, streicht versonnen, fast mädchenhaft lächelnd über die bunten Blüten. Sie zeigt in diesem Augenblick viel zu weiche Züge für eine Machtpolitikerin.
Dann badet sie Richtung Bühne gut gelaunt in der Menge. Vor 6000 Zuhörern ist Harmonie mit der Schwesterpartei angesagt. Entsprechend hat sie ihre Themen sortiert. Die Flüchtlingspolitik streift sie knapp. Auf den Streit mit der CSU um eine Obergrenze ging sie im Kernland der Christsozialen gar nicht ein. Dafür wirbt sie, Tradition und Vielfalt zu pflegen, „weil wir sie brauchen werden, um die neuen Zeiten zu meistern“. Dazu preist sie die Schönheit der Kurstadt. Bei all dem Sonnenschein geht der Politikertross Landwirten aus dem Weg, die am Rande der Veranstaltung mit einer leibhaftigen Kuh für höhere Erzeugerpreise protestieren. Es klingt fast wie ein Trostpflaster, als sie in ihrer Rede zu Beifall für alle jene aufruft, die sich für die Nahrungsmittelproduktion aufreiben.
Viele wählen nach dem Motto: keine Experimente
Und so kann man ihr natürlich vorhalten, dass sie das Volk einlullt. Aber geht es um die Frage, wem man seine Zukunft anvertrauen soll, ist dieses Gut-Aufgehoben-Sein-Gefühl vielleicht genau das Richtige. Politikberater Spreng bezeichnet diese Art von Wohlfühl-Wahlkampf als „Erfolgsrezept für gute Zeiten“. „Solange es gut läuft, wählen viele Deutsche bis heute nach dem alten Adenauer-Motto: keine Experimente.“
Doch in dieser Politik sieht er auch ein Problem. Und dieses Problem heißt Zukunft. „Die beiden großen Parteien verwalten in erster Linie die Gegenwart“, stellt Spreng fest. Doch viele junge Menschen fragen sich: Wie sieht unser Land in 20 Jahren aus? Was bedeutet die Globalisierung für mich? Welchen Job kann ich bis zur Rente machen? Ist mein Leben überhaupt noch planbar? Kann ich es mir leisten, eine Familie zu gründen? „Auf solche Fragen gibt Merkel keine Antworten und das könnte ihr in den kommenden Jahren auf die Füße fallen“, sagt Spreng. Als würde sie diese Leerstelle selbst erkennen, betont die Kanzlerin in letzter Zeit immer wieder, sie sei noch „neugierig“. Aber reicht das? Erwarten die Menschen nicht mehr als Neugier von ihr? Erwarten sie nicht, dass sie das Land mehr gestaltet als verwaltet?
Merkel wird es richten - auf ihre Art
Deutschland vor der Wahl. Ein Land, in dem es so gut läuft wie vielleicht nie zuvor. Und doch ist da so eine vage Ahnung, dass es vielleicht nicht ewig so weitergeht. Dass wir uns nicht abkoppeln können vom Rest dieser aus den Fugen geratenen Welt. Es gibt Leute, denen diese Ahnung Angst macht. Aber die meisten wollen nicht raus aus ihrer Wohlfühl-Ecke. Noch nicht. Mit den Problemen kann man sich doch immer noch beschäftigen, wenn sie da sind. Merkel wird es schon richten. Auf ihre Art. Erst vom Drei-Meter-Brett springen, wenn es unbedingt sein muss.
Mitarbeit: Wolfgang Dünnebier