Sie hätte Winzerin werden sollen. Zumindest, wenn es nach dem Berufsfindungstest in der Schule gegangen wäre. Doch Franziska Gierl hatte andere Pläne. Das heißt, zunächst hatte sie gar keinen Plan, als sie nach acht Jahren Gymnasium den Abschluss in der Tasche hatte. „In der Oberstufe hat man dieses riesige Ziel vor sich: Abitur. Danach steht man erst mal da und fragt sich: Was soll ich jetzt damit?“ Die 21-Jährige mit dem braunen Haar und der großen Brille wirkt auf den ersten Blick wie jemand, der ziemlich genau weiß, was er will. Ein vernünftiges Mädchen, würden Großeltern vielleicht sagen. 2014, nach dem Abi, entschied sie sich für ein Bachelor-Studium in Leipzig. Germanistik. Nach zwei Monaten brach sie es ab.
Damit ist sie nicht allein, ganz und gar nicht. Jeder dritte Bachelor-Student in Deutschland verlässt die Universität oder Hochschule noch vor dem Abschluss. Das zeigt eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung in Berlin (DZHW). Knapp die Hälfte hört schon im ersten oder zweiten Semester auf. So wie Franziska Gierl.
Heute, fast drei Jahre nach ihrem Ausflug an die Universität, lebt Franziska Gierl längst wieder in Füssen. Sie wohnt bei ihren Eltern und macht eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Ihre Arbeitsstelle liegt in der Fußgängerzone. In der Mittagspause setzt sie sich gerne ein paar Meter entfernt an den steinernen Stadtbrunnen. Dort, wo wegen der idyllischen Häuschen und der Sicht auf die nahen Berge jeden Tag hunderte Touristen hinkommen. Dass sie so weit weg von zu Hause war, hat Franziska Gierl das Studieren schwer gemacht – aber beileibe nicht nur das. Im Nachhinein bezeichnet sie den Studienabbruch als „Kurzschlussreaktion“, bei der viele Gründe zusammengekommen sind. Wenn sie erklären soll, welche das sind, schickt sie erst mal ein „Ach “ voraus und atmet tief ein. Dabei findet sie sonst ohne groß nachzudenken die richtigen Worte. Aber das hier, man ahnt es schon, ist eine komplizierte Geschichte.
„Ich habe gemerkt, dass das Studium nicht so war, wie ich es mir erwartet habe“, fängt sie an. Als sie in der Vorlesung saß und anhand von Landkarten lernen musste, wo einzelne deutsche Wörter herkommen, dachte sie sich: Was soll das alles? Außerdem hatte sie mit Griechisch ein Nebenfach gewählt, über das sie nichts wusste, in dem aber sehr viel erwartet wurde. Hinzu kam: „Ich war in einer fremden Stadt. Und dann bin ich auch noch krank geworden und lag allein in meiner Studentenwohnung. Das war zu viel.“
Wofür das Ganze? Diese Frage stellen sich viele Studienabbrecher, bevor sie kapitulieren. Ulrich Heublein ist einer der Autoren der Studie und hat gemeinsam mit Kollegen fast 30 000 Ex-Studenten angeschrieben, die ein halbes Jahr zuvor ihr Studium abgebrochen hatten. Vier von fünf wollten nicht darüber reden, der Rest hat den Fragebogen ausgefüllt zurückgeschickt. „Der häufigste Grund für einen Studienabbruch ist, dass die Studierenden die Leistungsanforderungen nicht erfüllen“, sagt Heublein. Das trifft auf 30 Prozent der Abbrecher zu. Knapp 20 Prozent bringen nicht die nötige Motivation auf, um das Studium durchzuziehen. Und 15 Prozent wollen doch eher etwas Praktisches machen.
„In allen Studiengängen mit mathematischen Bestandteilen sind die Abbrecherquoten überdurchschnittlich hoch“, erklärt Heublein. Ganz vorn liegen neben Mathematik selbst Informatik, Physik und Elektrotechnik. Der Experte erklärt das unter anderem damit, dass sich in Mathematik der Lernstoff der Schule besonders stark von den Anforderungen im Studium unterscheidet. Wer von einer beruflichen Schule mit Fachabitur an eine Hochschule wechselt, habe in dieser Hinsicht noch mehr Schwierigkeiten als Absolventen eines Gymnasiums.
Aber es gibt ein noch viel größeres Problem. Heublein fasst es so zusammen: „Die Leute wissen zu wenig über ihr Fach und über sich selbst.“ Er nennt ein drastisches Beispiel: „Stellen Sie sich vor, jemand interessiert sich für Literatur. Er wählt Germanistik, weil er denkt, da habe er endlich mal richtig Zeit zum lesen.“ Dass dieses Studium nicht nur bedeutet, sich mit Literatur zu beschäftigen, sondern auch mit Grammatiktheorie und Linguistik, merkt mancher erst nach der Einschreibung – im Hörsaal. Franziska Gierl braucht keine Studie, um sich das vorzustellen. Sie hat es ja selbst erlebt. „Ich habe mich vor dem Studium schon informiert, aber nicht gut genug“, sagt sie rückblickend.
Konkret heißt das: Sie hat den Studienführer der Bundesagentur für Arbeit durchgearbeitet und „ein bisschen gegoogelt“. Die eigene Zukunft – eine Trefferliste in der Suchmaschine.
Danach war Franziska Gierl der Meinung, dass Lektorin ein passender Beruf wäre. Sie ging davon aus, dass man dafür ein Germanistik-Studium braucht. „Also habe ich mich für Germanistik eingeschrieben. Ich dachte, das studiere ich jetzt und dann ist alles fix.“
Ihr ist bewusst, dass ein Außenstehender gar nicht anders kann, als zu denken: Wie naiv ist das denn? Franziska Gierl schämt sich nicht dafür. Sie will erklären, wie es damals in ihr aussah: „Nach dem Abi war ich erleichtert, dass ich etwas für mich gefunden hatte. Dadurch habe ich den Beruf etwas verklärt.“
Schon in den ersten Wochen in Leipzig kamen die Zweifel. Die Allgäuerin weiß noch, wie sie abends allein in ihrem Zimmer saß und nur an eines dachte: Das ist es nicht. Kurz vor Weihnachten rief sie ihre Eltern an. Die fuhren nach Leipzig und schleppten die Möbel aus dem Zimmer, das sie erst ein paar Wochen zuvor eingerichtet hatten. „Die Armen“, sagt ihre Tochter. Sie ist ihnen noch heute dankbar dafür.
Die ganze Sache hat Franziska Gierl die Augen geöffnet. Sie tat das, was sie schon viel früher hätte tun sollen: „Ich habe Praktika gemacht. Als Ergotherapeutin zum Beispiel. Und in einer Buchhandlung.“ Was sich dann als der Job herausstellte, den sie machen wollte. In diesen Tagen hat sie ihre letzte Prüfung, dann ist sie fertig ausgebildet. Nach dem Abitur hat sie über eine Ausbildung gar nicht nachgedacht. Alle, sie auch, hatten irgendwie die Erwartung: „Wer Abi hat, studiert auch.“
Bei Eltern, die selbst an der Hochschule waren, sei das besonders ausgeprägt. Bildungswissenschaftler Heublein spricht von einem „sozialen Automatismus“. „Wenn die Eltern studiert haben, wird in Familien wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das Kind auch aufs Gymnasium geht und studiert.“ Das Wörtchen „nur“ spiele dabei eine wichtige Rolle. Der Nachbarsjunge macht „nur“ eine Lehre, heißt es dann zum Beispiel. „Kinder von Akademiker-Eltern werden häufig in Richtung Studium gelenkt, ohne es zu merken.“ Die Statistik gibt Heublein recht. Es geht schon in der Grundschule los. Rund 40 Prozent der bayerischen Viertklässler wechseln aufs Gymnasium.
In Regionen mit einem hohen Akademiker-Anteil, im Kreis München etwa, liegt die Quote sogar bei über 60 Prozent. Laut dem jüngsten Bildungsbericht Bayern ist in Unterfranken die Stadt Würzburg Spitzenreiter, dort liegt die Quote bei über 49 Prozent. Es folgt der Landkreis Würzburg (zwischen 43 und 49 Prozent). In der Stadt sowie im Landkreis Aschaffenburg und im Landkreis Kitzingen wechseln zwischen 37 und 43 Prozent der Schüler aufs Gymnasium. Schlusslicht in dieser Statistik ist die Stadt Schweinfurt mit einer Quote zwischen 25 – 31 Prozent. In den restlichen unterfränkischen Kreisen schaffen zwischen 31 und 37 Prozent den Sprung aufs Gymnasium.
Ab Herbst dauert das Gymnasium wieder neun Jahre statt acht. In der elften Klasse sollen die Schüler künftig ein ganzes Jahr Zeit haben, um Berufe und Studiengänge auszuprobieren und ihre eigenen Fähigkeiten kennenzulernen. Franziska Gierl hätte sich noch etwas anderes gewünscht: „Dass mir jemand gesagt hätte, dass es nicht nur den einen Weg zu einem Beruf gibt. Und dass man auch mal scheitern kann und es trotzdem in einen Job schafft. Es hätte mir, glaube ich, sehr geholfen, wenn sich auch mal Leute mit ungewöhnlichen Lebensläufen an der Schule vorgestellt hätten.“
In Bayern nehmen vier von fünf Studienberechtigten ein Studium auf. Der offizielle Studienführer für Deutschland listet 17 698 Studiengänge an 442 Hochschulen auf.
Einen davon wird Franziska Gierl ab Herbst belegen. Weinbau, wie im Schultest vorgeschlagen? Nein: Lehramt für Mittelschule. Diesmal ist sie optimistisch. „Ich habe heute ein ganz anderes Selbstbewusstsein, weiß, dass ich die Ausbildung gut hinbekommen habe. Und ich habe ein zweiwöchiges Praktikum in der Schule gemacht“, fügt sie hinzu. Mit ihrem Plan ist sie auch diesmal nicht allein. Jeder dritte Abbrecher will irgendwann wieder studieren.
Dann geht das Ganze von vorne los. Immerhin mit ein paar Erfahrungen mehr.
So viel gibt der Staat für Studenten aus
45 Prozent der Studienberechtigten eines Jahrgangs begannen zuletzt direkt nach der Schule ein Studium. Das geht aus dem Bericht „Hochschulen 2016“ des Statistischen Bundesamts hervor.
Der Hochschulträger, bei öffentlichen Universitäten das Bundesland, stellt den Einrichtungen sogenannte Grundmittel für Forschung und Lehre zur Verfügung. Darin enthalten sind unter anderem Personalkosten für Universitätsmitarbeiter. Außerdem werden über die Grundmittel Lehrmaterialien und zentrale Einrichtungen wie die Uni-Bibliothek finanziert. 2013 etwa fielen pro Student im Schnitt laufende Kosten von 6850 Euro an. Sie unterscheiden sich aber stark – je nachdem, ob ein Student die Universität oder die Hochschule besucht und vor allem je nachdem, welches Fach er studiert.
Mit Abstand am höchsten ist der Zuschussbedarf im Bereich Humanmedizin/Gesundheitswissenschaften. Die Studenten brauchen teure medizinische Geräte, Laborplätze, jeder muss intensiv betreut werden. Umgerechnet auf einen Medizinstudenten gab der Staat im Jahr 2013 rund 21 580 Euro aus.
Überdurchschnittlich günstig für Universitäten ist ein Student der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er benötigt pro Jahr nur Grundmittel von rund 3630 Euro. Hier ist viel weniger Ausstattung für die Lehre nötig - ebenso in Sprach- und Kulturwissenschaften, in denen pro Jahr und Student 5000 Euro ausgegeben werden.
Wer sein Studium abbricht, findet meist schnell wieder eine Tätigkeit: Der DZHW-Befragung zufolge haben 43 Prozent der Abbrecher ein halbes Jahr später eine Berufsausbildung begonnen. Gut 30 Prozent arbeiten ohne weitere Ausbildung, vier Prozent sind selbstständig. Andere reisen, machen Praktika oder gründen eine Familie. Arbeitslos ist nur jeder Zehnte. sari