Es sind Schicksalswahlen, zu denen die Türken am Sonntag an die Urnen gehen, Schicksalswahlen für Erdogan und für das Land. Erstmals wählen die Bürger gleichzeitig ein neues Parlament und einen Präsidenten. Der Urnengang markiert den Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum neuen Präsidialsystem.
Seit 15 Jahren dominiert Erdogan die politische Bühne der Türkei. Bei dieser Wahl muss er sich gleich gegen fünf Konkurrenten behaupten. Dazu gehören neben dem CHP-Kandidaten Ince die Nationalistin Meral Aksener und der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas. Gewinnt Erdogan, stärkt er seine Macht mit den neuen Befugnissen, die ihm die Präsidialverfassung gibt. Er wird Regierungschef und Staatsoberhaupt in Personalunion, kann weitgehend über das Parlament hinweg regieren, bestimmt die obersten Richter und kann die Nationalversammlung nach Gutdünken auflösen. Kein westlicher Staatschef hat eine solche Machtfülle.
Staatsfernsehen liefert reichlich Sendezeit
Wer das türkische Staatsfernsehen TRT einschaltet, sieht seit Wochen ein Gesicht: das von Recep Tayyip Erdogan. Wo immer der Präsident im Wahlkampf auch auftaucht, die Kameraleute von TRT sind dabei, um ihn möglichst vorteilhaft und lange ins Bild zu setzen. Die staatliche Medienaufsicht führt Buch, dazu ist sie verpflichtet. Demnach widmete TRT im Mai Erdogan, seiner Regierungspartei AKP und der mit ihr verbündeten rechtsextremistischen MHP insgesamt 28 Stunden Sendezeit. Erdogans fünf Gegenkandidaten bei der Präsidentenwahl und die sechs Oppositionsparteien kamen dagegen zusammen gerade mal auf zwei Stunden und neun Minuten.
Nicht nur der Staatssender TRT rührt für Erdogan die Werbetrommel. Auch die großen Privatsender, die inzwischen ausnahmslos von regierungsnahen Unternehmern kontrolliert werden, setzen den Staatschef so gut wie möglich ins Bild. Zwischen dem 1. und dem 25. Mai widmeten die beiden großen Nachrichtenkanäle NTV und CNN Türk Erdogan 70 Stunden Sendezeit, seinem wichtigsten Konkurrenten Muharrem Ince aber nur 22 Stunden. Die Präsidentschaftskandidatin Meral Aksener wurde mit 17 Minuten Sendezeit abgespeist, die Kurdenpartei HDP kam gar nicht vor.
„97 Prozent der Medien sind auf Regierungslinie“, sagt Aydin Engin. Der 77-jährige Stückeschreiber, Regisseur und Journalist war zeitweilig kommissarischer Chefredakteur der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, nachdem der reguläre Redaktionsleiter Murat Sabuncu, der Verlagschef und mehrere Redakteure verhaftet wurden. Im Oktober 2016 wurde auch Aydin Engin festgenommen, aber der Haftrichter ließ ihn wegen seines hohen Alters wieder frei. Im Verfahren gegen 14 „Cumhuriyet“-Mitarbeiter verurteilte das Gericht Engin im April wegen „Terrorvorwürfen“ zu siebeneinhalb Jahren Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Aber mehr als 150 Journalisten sitzen derzeit in der Türkei in Haft, 189 Medienunternehmen ließ Erdogan nach dem Putschversuch vom Juli 2016 per Dekret schließen. In der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) liegt die Türkei unter 180 Staaten auf Platz 157 – noch hinter Ländern wie Russland, Ruanda und Venezuela. Erol Önderoglu, Türkei-Chef von RoG: „Was wir (in der Türkei) erleben, ist eine Liquidierung des Journalismus.“
Die „Cumhuriyet“, deren früherer Chefredakteur Can Dündar 2016 nach Deutschland floh, ist die letzte große Tageszeitung der Türkei, die sich nicht von der Regierung gängeln lässt. Aber der Druck wächst, wie die Prozesse gegen die Redakteure und Verlagsmitarbeiter zeigen. Im März wechselte die größte türkische Mediengruppe den Besitzer: Aydin Dogan verkaufte sein TV- und Zeitungsimperium an die erdogannahe Demirören-Gruppe. Vorausgegangen war ein jahrelanger Machtkampf zwischen Dogan und Erdogan. Schließlich gab sich der 81-jährige Tycoon geschlagen. Der Demirören-Konzern, der im Bau- und Energiesektor tätig ist, kontrolliert nach der Dogan-Übernahme 70 Prozent der türkischen Medien. Damit sind nun früher halbwegs objektiv berichtende Medien wie die Zeitungen „Hürriyet“ und „Posta“ sowie die TV-Sender CNN Türk und Kanal D auf Regierungslinie eingeschwenkt.
Die Oppositionsparteien versuchen dennoch, sich Gehör zu verschaffen. Vor allem über die Sozialen Netzwerke wollen die Oppositionspolitiker und ihre Anhänger den Boykott der Erdogan-Medien durchbrechen. Der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, der wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft sitzt, veranstaltete aus seiner Zelle eine Pressekonferenz über Twitter.
Meinungsumfragen sind nicht eindeutig
„Wer hat ein Smartphone?“ rief der Erdogan-Herausforderer Ince kürzlich bei einer Wahlkundgebung ins Publikum. Viele Arme reckten sich nach oben. „Dann fangt jetzt alle an zu streamen!“, rief Ince. „Es gibt die Regierungsmedien, aber es gibt auch die Medien des Volkes!“ Ince forderte Erdogan zu einer TV-Debatte heraus. Aber der Staatschef will sich dem Duell nicht stellen. „Eine Unverschämtheit“ sei die Einladung, sagte Erdogan, Ince wolle nur von seiner Popularität profitieren. Doch die Absage zeigt: Erdogan weiß, dass Ince ihm gefährlich werden könnte.
Die Meinungsumfragen lassen keine eindeutige Prognose des Wahlausgangs zu. AKP-Parteisprecher Mahir Ünal rechnet damit, dass sich Erdogan bei der Präsidentenwahl im ersten Durchgang mit 54 bis 56 Prozent durchsetzt. Eine Untersuchung des Instituts Sonar von Mitte Mai sieht Erdogan dagegen nur bei 42 Prozent. Ähnlich widersprüchlich sind die Erhebungen zur Parlamentswahl. Das Meinungsforschungsinstitut Metro Poll erwartet für die von der AKP geführte Volksallianz einen Stimmenanteil von 54 Prozent. Andere Meinungsforscher prognostizieren dem Erdogan-Bündnis nur 42 bis 45 Prozent.