Rund 50 000 Soldaten aus allen 29 Staaten des Nordatlantik-Bündnisses sowie aus Finnland und Schweden proben in Norwegen den Ernstfall, den Angriff einer feindlichen Macht auf ein Mitgliedsland. Es ist klar, dass die Nato dabei Russland im Blick hat, auch wenn das offiziell niemand sagt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen betont beim Truppenbesuch in Rena, dass das Großmanöver „gegen niemanden gerichtet“, sondern ein Signal der Nato-Staaten untereinander sei, „dass das starke Bündnis seine Mitglieder schützt“.
Schutz, den sich die Nato-Mitglieder Polen, Estland, Lettland und Litauen wünschen, in denen Russland mit seiner Annexion der Krim und der Unterstützung pro-russische Separatisten im Konflikt in der Ostukraine tiefe Ängste geweckt hat. So dass die Nato nun erstmals seit dem Ende der „Reforger“-Manöver im Jahr 1993 wieder eine echte Großübung hält. Russland hat angekündigt, in den internationalen Gewässern vor Norwegen, in denen auch die Nato-Kriegsschiffe kreuzen, Schießübungen mit Marschflugkörpern durchzuführen.
Die Nato reagiert gelassen. Deutschland stellt mit rund 8000 Soldaten den zweitgrößten Truppenanteil nach Gastgeber Norwegen. Im Feldlager der „Verteidigungstruppen“ in Rena lässt sich von der Leyen von Brigadegeneral Ulrich Spannuth über den bisherigen Verlauf informieren. Hauptziel sei, so Spannuth, zu gewährleisten, dass im Ernstfall die Verlegung eines Gefechtsverbands in einem sehr engen Zeitfenster funktioniert. Für die Bundeswehr ist es eine Art Generalprobe, denn im kommenden Jahr stellt sie erstmals die „schnelle Speerspitze“ der Nato.
Lackmustest für die Truppe
Im Rahmen der „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF), auf Deutsch „Einsatzgruppe mit sehr hoher Einsatzbereitschaft“ müssen bestimmte Truppenteile zwölf Monate lang praktisch ständig auf Abruf stehen. Innerhalb von nur zwei bis sieben Tagen sollen sie in der Lage sein, befreundeten Ländern im Falle eines Angriffs von außen zur Seite zu springen. Im Moment läuft mit der Truppenübung die „heiße Phase“ des Großmanövers in Norwegen. Doch die Vorbereitungen haben bereits im August begonnen, vor allem die Logistik sei eine gewaltige Herausforderung. Für die Bundeswehr ist das Manöver, das Deutschland 90 Millionen Euro kostet, auch in einer anderen Hinsicht ein Lackmustest.
Ist die Truppe voll einsatzfähig, obwohl es seit Jahren große Probleme mit mangelhafter oder gar fehlender Ausrüstung gibt? Kann Deutschland den höheren Beitrag zur internationalen Sicherheit, den US-Präsident Donald Trump fordert, in absehbarer Zeit leisten? Dass die Ausrüstungsgegenstände für das Manöver zum Teil bei anderen Truppenteilen geliehen werden mussten, daraus macht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen keinen Hehl: „Das sind die Spuren, die 25 Jahre des Sparens hinterlassen haben.“
Im „Camp Gardemoen“, der deutschen Nachschubbasis bei Oslo, sagt der Kommandeur des Logistikbataillons aus Beelitz bei Berlin, dass es seine Einheit „so gar nicht gibt“. Die 350 Fahrzeuge und 800 Soldaten seien von sieben Standorten zusammengezogen wurde. Ursula von der Leyen hört nachdenklich zu. „Das wollen wir ändern“, sagt sie. Die Trendwende bei der Ausrüstung, das betont das Verteidigungsministerium, sei geschafft, viele Anschaffungen beschlossen, zahlreiche Aufträge erteilt. Doch es dauere eben, bis das Material auch bei der Truppe ankomme. Beim Manöver, bestätigen mehrere Offiziere, sei alles Nötige vorhanden. Für den Einsatz im Winter etwa haben die Truppen gerade erst neue Spezialkleidung bekommen.
Austausch mit den Kameraden
Gerade von den norwegischen Kameraden lasse sich viel lernen über das Überleben bei extremen Bedingungen. Den Austausch mit den Kameraden aus anderen Nato-Staaten empfinden viele Bundeswehrsoldaten als bereichernd, beim Essen im 2000 Leute fassenden Verpflegungszelt mischen sich an den Tischen die Schattierungen von Grün der Uniformen aus Norwegen, Deutschland, Tschechien oder Holland.
Und dennoch – dass hier für ein Kriegsszenario geprobt wird, gerät nie in den Hintergrund. Im Gegensatz zu einem Ernstfall steht in Norwegen schon fest, wie die Sache ausgeht: Die Angreifer aus dem Norden dringen weit nach Süden vor. Einige Tage lang müssen die Verteidiger zurückweichen. Doch dann erfolgt der Gegenschlag. Den Angreifern bleibt nur der Rückzug. Als sie schließlich bei Telneset wieder die eisige Glomma überqueren, ist dieser „Krieg“ zu Ende gespielt.