Wer kann eigentlich für die EU sprechen? Oder anders gesagt: Wenn es heißt, „die“ EU habe etwas beschlossen – wer ist das dann eigentlich?
Die Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten kommen mindestens vier Mal im Jahr zu ihren Gipfeltreffen zusammen, konkrete Entscheidungen über die europäische Alltagspolitik aber treffen sie da nicht. Ihre Ergebnisse stellen Sie deshalb auch lediglich in einem Dokument zusammen, das sich „Schlussfolgerungen“ nennt und eine Art Leitlinie für die konkrete Gesetzesarbeit darstellt. Die wird von den anderen drei Institutionen geleistet. Vereinfacht gesagt: Die EU-Kommission erstellt einen Vorschlag, die Vertreter der Mitgliedstaaten beschließen im Ministerrat, das Europäische Parlament entscheidet.
Doch im Alltag sind die Instrumente sehr viel feiner abgestimmt, beispielsweise um sicherzustellen, dass die großen Mitgliedstaaten nicht die kleinen gängeln – oder die Kleinen sich zusammenschließen, um einen Großen über den Tisch zu ziehen. So haben Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien derzeit je 29 Stimmen im Ministerrat (je 8,2 Prozent), während Malta als kleinstes Land lediglich drei Stimmen vergeben kann.
Ein Gesetzentwurf gilt als angenommen, wenn von den insgesamt 352 mindestens 260 Stimmen dafür sind. Die Faustregel des Lissabonner Vertrages lautet: Es muss eine doppelte Mehrheit vorhanden sein, die 55 Prozent der Mitgliedstaaten und mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert. Der Verteilungsschlüssel wird immer wieder heftig kritisiert, weil man die kleinen Staaten hochrechnen musste (degressive Proportionalität), damit sie nicht ganz leer ausgehen.
Dennoch bleibt eine Schieflage, die sich übrigens auch im Europäischen Parlament wiederfindet. So steht ein deutscher Abgeordneter für 828 911 Bundesbürger, während ein maltesischer Parlamentarier 82 520 Wählerstimmen hinter sich hat. Doch das Plenum ist mit künftig 751 Volksvertretern ohnehin schon eines der größten in der westlichen Welt – eine noch größere Volksvertretung wäre kaum mehr arbeitsfähig.
Die Frage nach dem mächtigsten Mann (oder der mächtigsten Frau) innerhalb der EU ist also kaum zu beantworten, da die drei großen Institutionen in einem Gleichgewicht miteinander funktionieren. Seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages 2009 hat sich diese Machtbalance zugunsten des Europäischen Parlamentes sogar noch weiter verschoben, weil die Parlamentarier inzwischen für alle Politikbereiche mit zuständig sind. Sie haben lediglich – im Unterschied zu allen nationalen Volksvertretungen – keine Regierung vor sich, die man unterstützen oder gegen die man opponieren kann.
Doch die Planungen gehen längst weiter. Schon 2019, also bei der nächsten Europawahl, könnte der Job des Kommissionschefs mit dem des Ratspräsidenten vereinigt werden, so dass es dann tatsächlich einen „Mister Europa“ (oder eine „Madame Europa“) geben würde.
Ein erster, behutsamer Schritt in diese Richtung wurde aber schon für die Europawahl 2014 getan. Zum ersten Mal treten die Parteienfamilien nämlich mit Spitzenkandidaten in allen 28 Mitgliedstaaten an. Sie gelten im Falle eines Wahlsieges als die geborenen Kandidaten für das im Herbst neu zu besetzende Amt des Kommissionspräsidenten – vorausgesetzt, die Staats- und Regierungschefs halten sich an die Spielregeln. Die sind nämlich im Lissabonner Vertrag höchst unscharf formuliert worden. Der neue Kommissionschef soll „im Licht des Wahlergebnisses“ benannt und dann vom Parlament gewählt werden. Damit können die rund 390 Millionen Wahlberechtigten in den 28 Mitgliedstaaten zum ersten Mal Einfluss auf die Besetzung der beiden höchsten Ämter in der EU nehmen: die beiden Präsidenten der Kommission und – zumindest indirekt – auch des Parlamentes.