Auf einmal ist es wieder da. Das Bild vom spontanen, emotionalen, unberechenbaren und manchmal auch unbeherrschten Bauchpolitiker, der sich nicht immer im Griff hat und dem hin und wieder die Gäule durchgehen. Dabei hat SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel in den letzten Jahren alles getan, um diesen Ruf loszuwerden und sein Image zu verbessern. Er arbeitete hart an sich, hielt sich in den ersten Monaten nach der Regierungsbildung bewusst in der Öffentlichkeit zurück und konzentrierte sich auf seine Arbeit als Wirtschafts- und Energieminister. Sigmar Gabriel wollte anders wahrgenommen werden: seriös, überlegt, sachorientiert und ausgleichend.
Debakel der Thüringer SPD
Doch am Sonntagabend brach die Fassade auf – und hinter dem neuen Sigmar Gabriel kam wieder der alte zum Vorschein. Sichtlich geschockt vom Debakel der Thüringer SPD, die von 18,5 auf 12,4 Prozent abstürzte und nur knapp vor der AfD landete, redete der SPD-Chef auf der Wahlparty seiner Partei im Willy-Brandt-Haus nicht lange um den heißen Brei herum, sondern sagte, was er dachte. Und das kam einer öffentlichen Watschen für die Genossen im Freistaat gleich.
Unter dem Eindruck der ersten Prognosen, dass es keine Mehrheit für ein rot-rot-grünes Bündnis im Erfurter Landtag gebe, forderte Gabriel den Landesverband direkt und unmissverständlich auf, sich neu aufzustellen. Das Ergebnis müsse „Konsequenzen“ haben, es sei eine „Zäsur“, nötig sei ein „Neuanfang“, tobte er.
„Spontaner Gefühlsausbruch“
Jeder wusste, wer damit gemeint war, auch wenn Gabriel keine Namen nannte – der erfolglose Landesvorsitzende Christoph Matschie und die gescheiterte Spitzenkandidatin Heike Taubert. Berichte, er habe noch am Wahlabend den Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein angerufen und aufgefordert, den Parteivorsitz zu übernehmen, wies der SPD-Chef allerdings als „Blödsinn“ zurück.
In der SPD sorgt der Auftritt Gabriels, der offenbar mit niemandem abgesprochen war, für Unruhe. „Normalerweise regelt man so etwas intern, nicht öffentlich vor laufenden Fernsehkameras“, sagt ein führender Sozialdemokrat dieser Zeitung. „Und erst recht nicht wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale.“ Es sei üblich, dass man den Landesverbänden Zeit gebe, ein Wahlergebnis zu analysieren und dann die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. „Das hat kein Parteichef von oben per ordre de mufti zu befehlen.“
Ein anderer Genosse spricht von einem „spontanen Gefühlsausbruch“ des Vorsitzenden. Zwar habe er in der Sache recht gehabt, sich aber im Ton vergriffen. Das sei „ein bisschen zu heftig gewesen“, unkontrolliert, emotional. „Ihm ist mal wieder der Kragen geplatzt.“
Auch in der Sitzung des SPD-Präsidiums am Montag, bei der Gabriel zunächst fehlte, weil sein Zug Verspätung hatte, wurde Gabriels spontaner Gefühlsausbruch kritisiert. So sagte der Wahlsieger von Brandenburg, Dietmar Woidke, Gabriels Verhalten sei unsolidarisch, so könne man das nicht machen. Ähnlich äußerte sich auch Christoph Matschie, der am Montagabend bei einer Sitzung der Führungsgremien seiner Partei in Erfurt seinen Rücktritt als Landeschef erklärte – und den Weg für Andreas Bausewein frei machte.
Personeller Neuanfang
Damit hat Sigmar Gabriel sein Ziel erreicht – es gibt einen personellen Neuanfang in Thüringen nach dem Desaster vom Sonntag. Und der ist aus Sicht des SPD-Chefs auch dringend erforderlich. Denn seit seiner Wahl zum Vorsitzenden der ältesten deutschen Partei nach der verheerenden Wahlniederlage 2009 treibt ihn der Ehrgeiz an, die SPD – wie einst unter Willy Brandt und unter Gerhard Schröder – wieder zur stärksten politischen Kraft im Lande zu machen.
Aus diesem Grund führte er die Genossen auch im vergangenen Herbst behutsam, aber konsequent in die Große Koalition mit der Union, setzte sich mit seinem Kurs in einem Mitgliederentscheid durch und unternahm seit Dezember alles, die SPD als verlässlichen Koalitionspartner erscheinen zu lassen. So gelang es ihm, die Partei zu befrieden und die einstmals heftigen Flügelkämpfe zu beenden.
Kein Raufbold und Krawallmacher
Nicht zuletzt versuchte Gabriel, sich ein Stück weit die Kanzlerin zum Vorbild zu nehmen und deren unaufgeregten, ruhigen und nüchternen Stil zu übernehmen, wohl kalkulierend, dass die Wähler keinen Raufbold und Krawallmacher zum Kanzler wollen. Dies gelang ihm bislang auch ganz gut – bis zum Sonntagabend, als ihm mal wieder der Kragen platzte.