Wo war Gott, als ich durch den Staub lief und fürchten musste, hinterrücks von Gewehrkugeln durchsiebt zu werden? Wo war er, als ich zusehen musste, wie Menschen gefoltert, Frauen vergewaltigt und Leichname ausgenommen wurden? Wenn Gott all dies gesehen hat, wie kann ich ihn da als Retter preisen? Ich hatte gelernt zu kämpfen und mich selbst zu retten. Ich war jetzt ein Krieger.“
Als Ben Kwato Zahn sich von seinem Gott abwandte und beschloss, sich von nun an nur noch auf sich selbst und seine Kalaschnikow zu verlassen, war seine Seele erloschen. Er war noch ein Kind, und er war schon ein Soldat. Mit 17 Jahren hatte er beschlossen, notfalls zu töten, um nicht selbst getötet zu werden.
Ben war wie rund 20 000 andere Jungs und Mädchen Soldat im liberianischen Bürgerkrieg, in dem Charles Taylor und andere Warlords mithilfe zugedröhnter Kinder um die Macht im westafrikanischen Vielvölkerstaat und um den Zugang zu den Bodenschätzen in einem der ärmsten Länder der Welt kämpften. Über 250 000 Menschen starben im Konflikt zwischen Rebellen und Regierung, über eine Million Menschen wurden vertrieben, Zehntausende wurden verwundet, vergewaltigt und verstümmelt. Ben überlebte das Gemetzel. Doch was er erlebt hat, wird den mittlerweile 41-Jährigen sein Leben lang verfolgen. Nachts suchen die Dämonen der Vergangenheit ihn oft heim. Auch zehn Jahre, nachdem der Krieg, der in Bens Alpträumen weiter wütet, offiziell beendet ist, zuckt sein Blick immer noch nervös. Als seine Augen noch die Augen eines Kindes waren, haben sie gesehen, was keine Kinderseele verkraftet.
Ben sitzt mit Michael Jentzsch unter Palmen an einem weißen Sandstrand in der Nähe der liberianischen Hauptstadt Monrovia und beobachtet, wie die untergehende Sonne das Meer langsam rot färbt. Viele Menschen stellen sich so das Paradies vor. Für Ben und Michael war der Strand das Paradies. Vor über 25 Jahren. Michael kam als Sohn eines deutschen Missionars auf das Grundstück der ältesten christlichen Radiostation Afrikas, die direkt am Traumstrand liegt. Dort lernte der damals Achtjährige den drei Jahre älteren Ben kennen. Die beiden wurden beste Freunde. Sie gingen zusammen angeln, durchstreiften den Urwald, schlossen wie Winnetou und Old Shatterhand in Michaels Karl May-Büchern Blutsbrüderschaft. Doch dann verwandelte das Paradies sich in die Hölle.
Als Charles Taylor 1989 mit seiner National Patriotic Front of Liberia von der benachbarten Elfenbeinküste aus einen bewaffneten Aufstand gegen Präsident Samuel Doe begann, brach der Krieg mit voller Gewalt aus. Michael floh mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Nigeria, dann nach Deutschland. Er machte Abitur, lernte seine zukünftige Frau kennen, wurde Lehrer und Vater von zwei Töchtern und kaufte ein Haus in der Nähe von Bremen. Er hätte glücklich sein können – doch er war es nicht. „Ich fühlte mich schuldig, weil ich Dich im Stich gelassen habe. Ich wusste noch nicht einmal, ob Du überhaupt noch lebst“, sagt Michael zu Ben, als die beiden Männer abends am Strand sitzen.
Kurz, nachdem Michael und seine Familie vor dem Krieg geflohen waren, verließ auch Ben die Missionarsstation am Strand. Weil er der Volksgruppe der gegen die Regierung kämpfenden Gio angehört, hätten die Regierungssoldaten ihn wohl getötet, wäre er ihnen in die Hände gefallen. Zu Fuß wollte Ben sich zu seiner Familie durchschlagen. An Straßensperren sah er, wie Kämpfer Mädchen und Frauen vergewaltigten und Kindersoldaten Flüchtlinge folterten und erschossen. An einem der Checkpoints erfuhr er, dass sein Onkel Peter alias „Commander Hopeless“ ein gefürchteter Rebellenanführer war. Der brutale Kommandeur nahm seinen Neffen auf und drückt dem 16-Jährigen mit den Worten „Einmal mehr schießen, ist immer besser, als selber zu sterben“, eine Kalaschnikow in die Hand. Ben feuerte die ersten Salven in den Dschungel. „Ich spürte zum ersten Mal die Macht, die einem solch ein Gewehr verleiht“, schrieb er fast 20 Jahre später im Buch „Blutsbrüder“, in dem er mit seinem Kindheitsfreund Michael seine Erfahrungen als Kindersoldat verarbeitete.
Kindersoldaten waren im liberianischen Bürgerkrieg billiger als reguläre Soldaten, oft wurden Straßenkinder zwangsrekrutiert. Häufig wurden die jungen Kämpfer an vorderster Front als Kanonenfutter verheizt, Mädchen dienten als Sexsklavinnen. Offiziell ist die Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten auf der ganzen Welt verboten, doch nach Schätzungen der UNO kämpfen weltweit immer noch 250 000 Minderjährige, die meisten von ihnen für Rebellenorganisationen in Afrika, jeder dritte Kindersoldat soll ein Mädchen sein. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass zwischen 1990 und 2000 etwa zwei Millionen Kinder gefallen, sechs Millionen zu Invaliden wurden und zehn Millionen schwere seelische Schäden erlitten.
Bei einem Raketenangriff wurden auch zwei von Bens besten Freunden getötet, Ben begab sich danach erneut auf die Flucht. Um nicht zu verhungern, um nicht von den Regierungstruppen gefangen genommen zu werden, und um der drohenden Zwangsrekrutierung, die mittlerweile für alle „Männer“ über neun Jahren bestand, zuvorzukommen, schloss Ben sich erneut den Rebellen an. In einem Ausbildungslager machten die mit menschlichen Fingern, Knochen, Nasen und Penissen behängten Kämpfer in vier Wochen aus dem Jungen Ben den Soldaten Ben.
„Um mich im Camp behaupten zu können, übte ich brutal aufzutreten. Ich trug mein Gewehr immer schussbereit mit mir herum. Ich nahm die Kalaschnikow sogar mit ins Bett“, schrieb Ben später in „Blutsbrüder“. Doch als er drohte, einen Vorgesetzten zu erschießen, weil der sich mit Sexsklavinnen in seinem Barackenzimmer vergnügt hatte, wurde der aufmüpfige Kindersoldat zum Abschuss freigegeben.
Um seiner drohenden Hinrichtung zu entfliehen, rannte Ben davon. Seine Kalaschnikow ließ er zurück. Nach einer lebensgefährlichen Flucht kam Ben schließlich bei seiner Familie an.
Für den mittlerweile völlig verrohten Jungen, war es zunächst schwer, die christlichen Werte seiner Eltern wieder zu akzeptieren: „Ich sehnte mich nach den einfachen Regeln des Krieges“, schrieb Ben in „Blutsbrüder“. Doch mithilfe seiner Familie fand der einst fromme Junge seinen Glauben wieder. „Nicht ich oder mein Gewehr haben mir unzählige Male das Leben gerettet. Es war Gott“, sagt Ben 23 Jahre, nachdem er das erste Mal die Kalaschnikow in die Hand genommen hat. Und dann fügt er hinzu: „Ich habe ihn um Vergebung gebeten für das, was ich während des Krieges gedacht, gesagt und getan habe.“
Leben in Armut
Weltweit ist jedes vierte Kind unter fünf Jahren unterernährt. Nach Angaben der UN-Bildungsorganisation UNESCO sind es in Afrika sogar 46 Prozent. Zum Weltkindertag der Vereinten Nationen am 20. November weisen Hilfsorganisationen darauf hin, dass rund 900 Millionen Kindern, die unter 15 Jahre sind, grundlegende Dinge wie Nahrung, sauberes Wasser, medizinische Hilfe oder Schulbildung fehlen. Die Vereinten Nationen riefen den Aktionstag 1954 ins Leben. Der Weltkindertag wird in rund 145 Ländern an unterschiedlichen Terminen gefeiert, in Deutschland bereits am 20. September. In Ostdeutschland findet zudem am 1. Juni ein Internationaler Kindertag statt. Doch auch am 20. November wird in Deutschland ein Aktionstag für Kinder gefeiert: der Internationale Tag der Kinderrechte. Laut dem Deutschen Kinderhilfswerk ist dieser Tag kein Synonym für den Weltkindertag. Er geht zurück auf die Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention am 20. November 1989. Deutschland stimmte der Konvention im Jahr 1992 zu. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF hat anlässlich des Internationalen Tags der Kinderrechte an Union und SPD appelliert, Kinderinteressen bei den Koalitionsverhandlungen stärker zu berücksichtigen. „Es gibt in Deutschland noch eine Menge zu tun, insbesondere für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen“, sagte die Sprecherin von UNICEF Deutschland, Helga Kuhn. Mit 200 Millionen Jugendlichen lebt in Afrika die jüngste Bevölkerung weltweit. Bis 2045 wird die Zahl mindestens auf das Doppelte steigen. Für den Arbeitsmarkt des Kontinents bedeutet dies vor allem eines: Probleme. Den Vereinten Nationen zufolge gibt es nicht nur zu wenige Jobs; diese bieten zudem auch keine Sicherheit gegen Armut. Sambias Finanzminister Alexander Chikwanda warnt vor einer „tickenden Zeitbombe“. Auch die UN-Organisation für Industrielle Entwicklung (UNIDO) hat die Brisanz erkannt. Am Mittwoch begeht sie in Wien den „Tag der Afrikanischen Industrialisierung“ unter dem Motto: „Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmertum – ein Weg, um die afrikanische Industrialisierung voranzutreiben.“ Die Verbindung zwischen Industrialisierung und ausreichend Jobs ist für die UN-Organisation offensichtlich. Sie sieht es als Afrikas größte Herausforderung, „produktive und hochwertige Jobs“ für die wachsende Bevölkerung zu schaffen. Besonders deutlich wird dies in Uganda, Mali oder Niger, wo die 15- bis 24-Jährigen knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Im globalen Vergleich ist die Jugendarbeitslosigkeit in Afrika mit neun Prozent zwar nur gering: In Europas Krisenstaaten Portugal und Griechenland liegt die Zahl mittlerweile bei 36 und 65 Prozent. Doch anders als in Europa hätten in Afrika mehr als 63 Prozent sogenannte gefährdete Jobs. „Junge Afrikaner finden durchaus Arbeit, aber nicht in Betrieben, die regelmäßige Gehälter zahlen, Fähigkeiten fördern oder in irgendeiner Weise Sicherheit bieten“, so die US-Forschungseinrichtung Brookings Institution. Seine Erfahrungen hat Philipp Hedemann in seinem Buch „Der Mann, der den Tod auslachte“ niedergeschrieben. Dafür reiste er mit dem Geländewagen mehrere Tausend Kilometer durch Äthiopien, wo er sich unter anderem von einem Aidsheiler den Teufel austreiben ließ, Flüchtlinge in trostlosen Lagern traf und versuchte, das Rätsel der Bundeslade, in der die Zehn Gebote verwahrt werden, zu lüften. Das Buch hat 258 Seiten, ist im Dumont Reiseverlag erschienen und für 14,99 Euro im Handel erhältlich (ISBN 37 70 18 25 10). Text: dpa/KNA