Apathisch starrt Sri seine Mutter Munni an. Würde sie ihn nicht halten, würden dem Zweijährigen die dünnen Beine unter dem aufgeblähten Bauch zusammenklappen. In Indien ist fast jedes zweite Kind mangelernährt. In keinem Land der Welt leiden mehr Jungen und Mädchen unter verborgenem Hunger als in dem 1,2 Milliarden Einwohnerstaat. Sri ist eines von ihnen – und eines von ungezählten Kindern, die unter Mangelernährung leiden. Weltweit sind rund zwei Milliarden Menschen betroffen. Jedes Jahr sterben mehrere Millionen an den direkten und indirekten Folgen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass verborgener Hunger hinter jedem zweiten Todesfall bei unter Fünfjährigen steht.
Reis, Hirse, Linsen, Fladenbrot: Das ist alles, was Sri isst. Nur selten kann seine Mutter sich auf dem Markt ein paar halbvergammelte Mangos leisten. Frisches Obst, knackiges Gemüse, eiweißhaltiges Fleisch oder Fisch landen so gut wie nie auf Sris Teller. Seit Monaten hat kein Arzt den für sein Alter viel zu kleinen und viel zu leichten Jungen untersucht, aber dass es ihm an allem fehlt, was ein Kind im Wachstum braucht, sieht seine Mutter auch. „Sri ist immer müde und schwach. Er ist oft krank. Ich weiß, dass es daran liegt, dass ich ihm nicht das richtige Essen gebe. Aber was soll ich machen? Ich habe nichts anderes. Ich spare ja schon das Beste für ihn auf“, sagt die Mutter von zwei Kindern. Eigentlich wäre sie schon vierfache Mutter, doch Sris Bruder starb im Bauch, seine Schwester wenige Tage nach der Geburt.
In Chadida, dem trostlosen Dorf, in dem Sri mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder in einer Hütte ohne Strom und Wasser lebt, weiß jeder, warum Munnis Babys gestorben sind. Die mangelernährte Frau, die bis unmittelbar vor der Geburt auf ihrem kleinen Feld arbeiten musste, war einfach zu schwach, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen – und nach der Geburt hatte sie kaum Milch für ihre Babys. Gegen den Willen ihres Mannes hat sie sich jetzt sterilisieren lassen. Gerne hätte sie ein weiteres Kind bekommen, doch den Gedanken, noch ein Baby zu verlieren, konnte sie nicht ertragen.
Munni und ihre Kinder sind Korku. Die rund 142 000 Korkus gehören in Indien zu den am stärksten von Armut und Mangelernährung betroffenen Bevölkerungsgruppen. Oft reicht der Ertrag ihrer kleinen Felder nicht aus, um die eigene Familie satt zu kriegen. Da kaum ein Korku lesen und schreiben gelernt hat, ist es für sie schwer, anständig bezahlte Arbeit zu finden. Von der indischen Regierung wurde die Volksgruppe aus dem Bundsstaat Madhya Pradesh lange vernachlässigt; dass Korku-Kinder überdurchschnittlich häufig an den Folgen von verborgenem Hunger starben, wurde ignoriert.
„Nachdem Kinder gestorben waren, hat die Regierung den Müttern verboten, laut zu weinen. Man sollte sie außerhalb ihrer Hütten nicht hören. Das Problem sollte im wahrsten Sinn des Wortes totgeschwiegen werden“, sagt Michael Prakash. Vor zwölf Jahren gründete er mit seiner Frau Seema „Spandan“. Die von „Brot für die Welt“ unterstützte Hilfsorganisation berät die Korkus unter anderem beim Aufbau einer Landwirtschaft, die die Familien nicht nur satt macht, sondern sie auch mit Vitaminen versorgt. Die Hilfsorganisation lässt Kinder impfen und versorgt die in Teakwäldern an den Hängen der Satpura-Berge lebenden Korkus, die oft nur auf unbefestigten Straßen erreicht werden können, mit einer mobilen Krankenstation. Zudem hat „Spandan“ einfache Kindergärten eingerichtet, in denen Kinder beaufsichtigt und verpflegt werden, während ihre Eltern auf dem Feld arbeiten. Nach Angaben von „Spandan“ leiden 60 Prozent der Korku-Kinder unter fünf Jahren an Mangelernährung, bis zu zwölf Prozent sind so schwer unterernährt, dass sie in Lebensgefahr schweben.
Nandini gehört zu diesen zwölf Prozent. In einem staatlichen Gesundheitszentrum in Roshni versucht ihre Mutter Bhagwati Manoj ihr eine kalorienreiche Spezialnahrung einzuflößen. Doch Nandini hustet so sehr, dass sie kaum schlucken kann. Mit 16 Monaten wiegt sie gerade einmal 6560 Gramm. Als sie immer schwächer wurde, schickten Sozialarbeiter sie mit ihrer Mutter zur kostenlosen Behandlung ins Gesundheitszentrum.
„Im Ausland denken die Leute, Indien sei eine aufstrebende Atommacht, in der alle Menschen ständig neue Software entwickelten. Stattdessen leiden in diesem Land Millionen an Mangel- und Unterernährung. Aber das verschweigt die Regierung gerne“, sagt Michael Prakash. Mittlerweile hat die Regierung offiziell anerkannt, dass es in Indien Hunger gibt. Das Parlament verabschiedete ein ehrgeiziges Gesetz zur Ernährungssicherung. Demnach haben zwei Drittel der indischen Bevölkerung – 820 Millionen Menschen – Anspruch auf subventioniertes Getreide. Bislang erhielten nur 37 Prozent der Bevölkerung diese Unterstützung.
„In Indien ist die Mangel- und Unterernährung schlimmer als in vielen Teilen Afrikas. Die Regierung hat sich zu lange darauf verlassen, dass das Problem sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung von alleine lösen würde. Aber das tut es nicht. 1999 waren 47 Prozent aller Kinder in Indien mangelernährt, 2006 waren es 46 Prozent, obwohl das Wirtschaftswachstum da bei sieben Prozent pro Jahr lag“, sagt Biraj Patnaik, Chefberater des Obersten Indischen Gerichtshofs im Verfahren um das Recht auf Nahrung. Dass die Regierung seit 2006 keine bundesweiten Daten zur Mangelernährung mehr erhoben hat, zeigt, dass das Problem nicht besonders weit oben auf der Agenda steht. Viele Kinder werden dies mit dem Leben bezahlen.
Der Hunger in der Welt
Die Zahl der Hungernden zwischen 1990 und 2015 zu halbieren, ist das erste Millennium-Entwicklungsziel. Doch zwischen 2011 und 2013 hungerten laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) immer noch 842 Millionen Menschen. Das ist jeder achte Erdenbewohner. Dabei wurden bereits große Fortschritte erzielt. So litten zwischen 2010 und 2012 noch 868 Millionen Menschen Hunger, seit 1990 ist die Zahl der Unterernährten um 17 Prozent gesunken. Die Fortschritte aber werden unter anderem durch das Bevölkerungswachstum und die Auswirkungen des Klimawandels gefährdet. Auch wenn weniger Menschen verhungern, leidet rund ein Drittel der Bevölkerung in Schwellen- und Entwicklungsländern unter dem sogenannten „verborgenen Hunger“, einem Mangel an Mikronährstoffen (lesen Sie dazu das Interview rechts). Nach Schätzungen der FAO sind allein deshalb weltweit 162 Millionen Kinder kleinwüchsig, 99 Millionen untergewichtig. Jedes Jahr sterben Millionen Kinder unter fünf Jahren an den Folgen von Mangelernährung. Im Jahr 2050 werden rund 9,2 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Pro Kopf steht also immer weniger Ackerfläche und Weideland zur Verfügung. Weltweit steigender Fleischkonsum und die Ausweitung der Flächen, auf denen Pflanzen für die Bioenergie-Produktion angebaut werden, verschärfen das Problem. Damit trotzdem alle Menschen satt werden können, muss die globale Lebensmittelproduktion bis 2050 nach Schätzungen der FAO um 60 Prozent steigen. Bauern in Sub-Sahara-Afrika erwirtschaften 0,5 bis 1,5 Tonnen Getreide pro Hektar. Ihre Kollegen in Deutschland ernten auf der gleichen Fläche fünf bis acht Tonnen. Besseres Saatgut, hochwertige Dünge- und Pflanzenschutzmittel und eine effizientere Bewässerung können helfen, die Erträge zu steigern. Eine weitere Herausforderung stellt die schrumpfende Anbaufläche dar. 20 Millionen Hektar Acker und Weide – das ist mehr als die halbe Fläche Deutschlands – gehen jedes Jahr verloren. Straßen- und Häuserbau, der Anstieg des Meeresspiegels und fortschreitende Wüstenbildung schlucken Felder. Übernutzung, Über- weidung, falsche Bewässerung, Abholzung und Erosion laugen die Böden aus. Ökologische Anbaumethoden wirken der Auszehrung entgegen. Auch wenn die Erträge kurzfristig oft geringer sind, ist die Ökolandwirtschaft der nachhaltigere Weg, die Ernährung langfristig zu sichern.
Laut einer Studie des Swedish Institute for Food and Biotechnology geht weltweit ein Drittel der produzierten Nahrung verloren. Unter anderem weil Transport- und Lagermöglichkeiten fehlen, verderben jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen Essen. Text: PH