In Russland steuert die von der Regierung ausgerufene Dekade des Sports auf ihren Höhepunkt zu. Schon vor der am Donnerstag beginnenden Fußball-Weltmeisterschaft fanden Dutzende internationale Ereignisse statt: die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi oder die Weltmeisterschaften im Biathlon 2011, in der Leichtathletik 2013 und im Schwimmen 2015. Im Sport konnte sich Präsident Wladimir Putin als Staatsmann in Szene setzen. Während zur gleichen Zeit russische Soldaten in die Ostukraine vordrangen oder für den syrischen Kriegsverbrecher Baschar al Assad kämpften. Die emotionalen Bilder des Sports helfen Russland bei der Identitätsfindung in einem riesigen Land mit seinen hundert ethnischen Gruppen.
In Deutschland gilt die Zivilgesellschaft als Partnerin des Rechtsstaats, in Russland wird sie als Gegenbewegung betrachtet. Im Kreml besteht seit Jahren die Sorge vor dem Machtverlust, bestärkt durch Revolutionen in Georgien, in der Ukraine oder in der arabischen Welt. Die Konsequenz: mehr Repression. In den Jahren 2014, 2015 und 2016 wurden jeweils um die 1000 Menschen wegen „staatsfeindlicher Aktionen“ festgesetzt – 2017 waren es rund 4000 Menschen. Auch mit der Begründung, man müsse sich vor der „wachsenden Bedrohung des Terrorismus schützen“.
So wie vor dem Confederations Cup 2017 ist es nun auch vor der Weltmeisterschaft: Die Regierung schränkt die Versammlungsfreiheit ein, Oppositionelle wie Alexei Nawalny werden vorübergehend festgenommen. Jede Zusammenkunft von größeren Gruppen zieht Aufmerksamkeit auf sich. Einem kritischen Journalisten wie dem ARD-Dopingexperten Hajo Seppelt sollte zunächst die Einreise verweigert werden.
Die WM folgt einer Logik: Jahrzehntelang fanden die wichtigsten Sportereignisse in Europa und Amerika statt, mit der Kommerzialisierung Ende des 20. Jahrhunderts kamen autokratisch geführte Nationen hinzu. Sponsoren und TV-Rechteinhaber freuten sich über Wachstumsmärkte. Sportfunktionäre legten nahe, dass die Aufmerksamkeit Gesellschaften liberalisieren könne. Studien halten dagegen: Sportereignisse können Spannungen zwischen sozialen Gruppen vertiefen.
So war es in Südkorea
Beispiel Südkorea: Nach der Militärdiktatur gewann die Demokratiebewegung in den 1980er Jahren an Kraft. Vor den Sommerspielen 1988 in Seoul wurden mehr als 700.000 Menschen aus ihren Wohnungen gedrängt, auch von Schlägertrupps. Zwischen 1986 und 1992 stiegen die Immobilienpreise in Seoul um 240 Prozent. Der soziale Wohnraum schrumpfte um 76 Prozent. Oder Atlanta in den USA: Im Jahr vor den Sommerspielen 1996 setzte die Polizei dort 9000 Menschen fest. Auf den Arrestformularen gab es einen Vordruck: „Afro-Amerikaner. Männlich. Obdachlos“. In fast allen Austragungsorten von Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen sind Strukturen entstanden: Flughäfen und Straßen, Wohnviertel und Nahverkehr. Doch in den meisten Regionen profitiert eine Minderheit: Politiker, Funktionäre, Baukonzerne. Das Land, das unter dem Profilierungsdrang am meisten leidet, ist Brasilien. Vor der WM 2014 wurde der Sicherheitsapparat hochgefahren, vor allem in den Favelas, die Polizeigewalt stieg. 2014 wurden im Bundesstaat Rio de Janeiro 580 Menschen von Polizisten getötet, 2017 waren es fast 1000 Personen.
Statt in urbane Entwicklung, Bildung und Drogenprävention zu investieren, wurde das Geld woanders verbraucht. Zwölf der 27 Olympia-Arenen von 2016 wurden nicht wieder genutzt. Die neue U-Bahn kommt nur der Mittelschicht zugute. Krankenhäuser und Polizeidienststellen müssen sparen und teilweise schließen. Es mangelt an Mitteln für den Breiten- und Gesundheitssport.
2022 kommt der WM-Zirkus in Katar an. Hier steht der Vorwurf massiver Ausbeutung der Arbeiter im Raum. Katar schimpfte auf Subunternehmer, kündigte einen besseren Mindestlohn an, versprach Rechtsschutz. Ob diese Ankündigungen dauerhaft umgesetzt werden, ist schwer zu belegen. Doch immerhin verschwanden die Schlagzeilen. Während Katar wegen angeblicher Terrorismusverflechtungen von seinen Nachbarstaaten isoliert wurde, wuchs der Einfluss des Emirats in Europa, auch durch den Fußball. Über Stiftungen und Fonds stieg Katar als Trikotsponsor beim FC Barcelona und als Eigentümer bei Paris Saint-Germain ein. Der FC Bayern war acht Mal für Trainingslager zu Gast, darüber dürfte sich auch Anteilseigner Audi freuen. Der Klub unterhält eine Partnerschaft mit dem Flughafen in Doha. Und Qatar Airways ersetzt die Lufthansa als „Platinsponsor“.
In einer globalen Wirtschaft werden solche Verbindungen zunehmen, zumal die Bundesliga zur englischen Premier League aufschließen möchte und es in der arabischen Welt dutzende gut organisierte Fanklubs des FC Bayern gibt. Viele der rund 500 Klubmitarbeiter in München sind mit Außendarstellung beschäftigt, auch für die Märkte in Asien und Nordamerika. Man möge sich vorstellen, der FC Bayern würde seine Gesellschaftspolitik mit der gleichen Energie nach innen ausrichten, mit Sozialarbeitern, Entwicklungshelfern, Historikern.
Doch es fehlt auch ein Blick in den eigenen Vorgarten. Noch immer laden Profiklubs geflüchtete Menschen zu Heimspielen ein. Andererseits machen sich dieselben Klubs von Sponsoren abhängig, die in Niedriglohnländern produzieren lassen – und damit zu Fluchtursachen beitragen. In der Wirtschaft hat sich herumgesprochen, dass es in Gesellschaftspolitik nicht darum geht, wie Unternehmen einen Teil ihrer Gewinne an Projekte weiterreichen. Sondern darum, wie sie diese Gewinne überhaupt erwirtschaften.
Fans empören sich, wenn der DFB eine Serie von Freundschaftsspielen mit einer chinesischen Jugendauswahl verabredet. Aber es fällt ihnen weniger auf, dass Sponsoren und Vermarkter ihrer Lieblingsklubs längst mit chinesischen, russischen oder arabischen Konzernen verflochten sind. Fans regen einen Boykott der WM in Russland an, aber sie werden vor den Fernsehern wieder Teil eines Millionenpublikums sein. Laut Schätzungen sollen ARD und ZDF rund 150 Millionen Euro für die Übertragungsrechte gezahlt haben. Dieses Geld stützt auch die Fifa.
Wie kritisch man als Fußballkonsument auch sein mag – man ist Teil eines Systems, in dem Menschen auch Schaden nehmen. Zum Beispiel in Asien, wo 90 Prozent der Kleidung hergestellt werden, die wir in Europa kaufen und tragen. So sollen dort 500 chemische Substanzen, viele gesundheitsschädlich, zum Einsatz kommen: fürs Färben, Bleichen, Bedrucken und Imprägnieren der Stoffe. Die Löhne der Bekleidungskonzerne gehen in Kambodscha, Bangladesch oder Myanmar minimal über den Mindestlohn hinaus. Die Belegschaft ist gezwungen, viele Überstunden zu leisten. Am Kaufpreis der hierzulande beliebten Trikots und Bälle liegt der Lohnkostenanteil für die meist jungen Näherinnen selten über zwei Prozent.
Diese Kommerzlogik lässt sich so schnell nicht überwinden, also sollte die kritische Minderheit sich innerhalb des Systems um einen Wandel bemühen. 2014 haben sich Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaftsverbände und Fanbündnisse zur „Sports and Rights Alliance“ zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie schlagkräftiger wirken im Dialog mit Fifa, Uefa und IOC. Ihre Forderungen: Die Sportverbände sollten den Schutz von Menschenrechten und Umwelt deutlicher in Verträgen festschreiben. Es müsse eine unabhängige Dokumentation bei den Gastgebern geben. Auch globale Konzerne wie Adidas, McDonalds oder Coca-Cola sollten ihre Investitionen an Bedingungen knüpfen.
Die fordernde „westliche Presse“
In Russland und Katar haben Entscheidungsträger eine Abneigung gegen den fordernden Ton der Menschenrechtler und der „westlichen Presse“ entwickelt. Und in der Tat ist die Methodik der „Soft Power“ im Sport noch nicht ausgereift. Lange hatten Fifa, IOC und auch DFB ihre internationalen Projekte als gönnerhafte Geschenktouren inszeniert. Dass man auch in Europa etwas von Südafrikanern, Brasilianern oder Russen lernen kann, ging unter. Eine intensivere Zusammenarbeit des Sports mit dem Auswärtigen Amt und den Goethe-Instituten könnte den Methodenkoffer vergrößern.
Graubünden, Oslo, Boston oder Rom. Toronto, Stockholm, Krakau oder Budapest. In diesen Städten haben sich Bevölkerungen oder Regierungen gegen Olympia entschieden. Die Münchner lehnten in einem Bürgerbegehren eine Bewerbung für 2022 ab, die Hamburger eine Bewerbung für 2024. Trotz beachtlicher Konzepte: Hamburg hätte einen komplett barrierefreien Stadtteil gebaut, mit einem großen Nachnutzungsanteil an sozialem Wohnraum.
Doch Funktionäre, Politiker und Unternehmen kamen gegen die Wahrnehmung von Korruption, Umweltfrevel und Doping nicht an. Ihre Reden und Werbevideos sollen Emotionalität wecken, sind aber meist weltfremd, von selbstkritischer Risikoabwägung keine Spur. Kann es das also überhaupt geben, ein Sportereignis, das niemandem schadet? Der DFB will bei seiner Bewerbung für die EM 2024 einen neuen Weg gehen. Schon 2017 lud er Dutzende Gruppen aus der Zivilgesellschaft ein. Die Zeit bis zur EM könnte von sozialen Kampagnen begleitet werden. Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass der einzige Mitbewerber im September den EM-Zuschlag erhält: die Türkei und Erdogan.