„Der Krieg ist zu Ende, in einer Stunde sollen wir abziehen. (…) Wenn wir gehen, gehen wir für immer. Es ist ein sonderbarer Moment. (…) Wer kann das begreifen: Da stehen wir und sollten lachen und brüllen vor Vergnügen und haben doch ein flaues Gefühl im Magen.“ Genau 100 Jahre liegt dieser Moment zurück, den der deutsche Soldat und Schriftsteller Erich Maria Remarque, Autor des Buchs „Im Westen nichts Neues“, mit eindringlichen Worten beschrieben hat: das Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918.
Eine junge Frau liest sie mit fester Stimme vor. Sie steht am Triumphbogen in Paris und weiß die Augen von mehreren Dutzend Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt auf sich gerichtet, die Linsen von zahlreichen Fernsehkameras, die Blicke von Millionen Menschen. Nieselregen fällt vom Himmel. Ihr Beitrag ist einer von mehreren, vorgetragen von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern, als authentische Zeugnisse der damals am Krieg Beteiligten.
Mit dem Waffenstillstand von Compiegne endete vor 100 Jahren das Blutvergießen, das vier Jahre angedauert, Millionen Menschen das Leben gekostet, Städte, Dörfer und ganze Landstriche verwüstet hatte. Frankreich begeht dieses Datum traditionell als Feiertag, an dem der Präsident symbolisch die Ewige Flamme am Grab des Unbekannten Soldaten am Triumphbogen neu entfacht. Zum gestrigen 100-jährigen Gedenken empfing Paris die Vertreter von 72 Ländern aus der ganzen Welt, was der Zeremonie eine gewichtige internationale Dimension verlieh.
Unter den prominenten Gästen befanden sich die Präsidenten der USA, Russlands und der Türkei, Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan, der israelische Premier Benjamin Netanyahu sowie eng an Macrons Seite Bundeskanzlerin Angela Merkel. Neben den Vorträgen der Jugendlichen und musikalischen Einlagen, unter anderem durch das Jugend-Orchester der Europäischen Union, ergriff Macron das Wort.
Die Spuren dieses Kriegs würden niemals ausgelöscht und vergessen, versprach er, der das feierlich-zeremonielle Gedenken mit einer politischen Botschaft für die Gegenwart verknüpfte. „Der Patriotismus ist das exakte Gegenteil des Nationalismus“, sagte der französische Präsident. „Wenn man sagt: Unsere Interessen zuerst und die anderen sind uns einerlei!, radiert man die kostbarste Sache aus, die eine Nation hat, die sie leben lässt, die sie groß macht und am wichtigsten ist, ihre moralischen Werte.“ Visierte Macron mit seinen Appellen so manchen der anwesenden Gäste an? US-Präsident Donald Trump hatte der französische Staatschef am Samstag zu einem Zweiergespräch getroffen.
Seit einer Woche zelebrierte Macron die Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkrieges, der in Frankreich als „Großer Krieg“ bezeichnet wird und eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis spielt, und besuchte damals besonders schwer getroffene Regionen im Osten und Norden des Landes.
Überschattet wurde dieser Erinnerungs-Reigen durch eine Kontroverse um Marschall Philippe Pétain, der für die Abwehrerfolge in der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg als Nationalheld verehrt wurde, im Zweiten Weltkrieg allerdings als Chef des Vichy-Regimes mit den Nazis kollaborierte. Nachdem ein Aufschrei auf Macrons Würdigung von Pétain als „großem Soldaten“ gefolgt war, ruderte er zurück.
Der deutsch-französischen Freundschaft maß der Präsident bei seinem Gedenk-Programm eine besondere Bedeutung bei. Gemeinsam mit Merkel besuchte er einen nachgebauten Eisenbahnwaggon in der Waldlichtung bei Compiegne, wo vor 100 Jahren die Deutschen kapitulierten und in einem Waggon der Waffenstillstand unterschrieben wurde. Gemeinsam enthüllten sie dort eine in beiden Sprachen verfasste Erinnerungsplakette. Merkel, die diesen Ort als erste deutsche Regierungschefin überhaupt besuchte, nannte die Zeremonie bewegend und „nicht nur Mahnung, sondern auch Ansporn“.
Die Kanzlerin war es auch, die neben UN-Generalsekretär António Guerres am Sonntagnachmittag das „Forum für den Frieden“ eröffnete, das künftig als jährliche Veranstaltung unter Beteiligung von Think Tanks eingeführt werden soll. Während Trump statt einer Teilnahme den US-amerikanischen Soldatenfriedhof besuchte, sagte sie: „Dieser Krieg mit seinem sinnlosen Blutvergießen zeigt, wohin nationale Selbstherrlichkeit und militärische Überlegenheit führen und welch verheerende Folgen Sprachlosigkeit und Kompromisslosigkeit in Diplomatie und Politik haben können.“ Mit ihrer Warnung vor „nationalem Scheuklappendenken“ klang Merkel, als hätte sie sich mit Macron abgestimmt.