Seit dem zweiten Jahrestag der Revolution am vergangenen Freitag erlebt Ägypten eine bisher beispiellose Welle von Aufruhr und Gewalt, die längst nicht mehr nur auf den Tahrir-Platz und das unmittelbare Zentrum von Kairo begrenzt ist, sondern alle größeren Städte in Ober- und Mittelägypten sowie im Nil-Delta erfasst. Der Nationale Verteidigungsrat, dem neben Präsident Mohammed Mursi auch der Verteidigungs-, Innen- und Kommunikationsminister angehören, drohte am Sonntag, über die Unruhegebiete das Kriegsrecht und eine nächtliche Ausgangssperre zu verhängen.
- Chronologie der blutigen Krawalle und Proteste in Ägypten
„Ein Land – zwei Völker“, titelte kürzlich eine Kairoer Zeitung. Zwei Jahre nach dem Sturz von Hosni Mubarak sind die 85 Millionen Ägypter so tief gespalten und frustriert wie nie zuvor – Spannungen, die sich am Samstag früh um neun Uhr erneut entluden, als der Vorsitzende Richter Sobhy Abdel Maguid im Staatsfernsehen live die Liste der 21 zum Tode verurteilten Fußballfans aus Port Said verlas. Vor den Toren der Polizeiakademie in Neu-Kairo brach Jubel aus. Männer lagen sich weinend in den Armen, andere küssten Fotos ihrer getöteten Angehörigen. „Rache, Rache“ rief die Menge und schwenkte mitgebrachte Galgenstricke.
Und während die Anhänger des Kairoer Traditionsclubs Al Ahly auf ihrem Vereinsgelände auf der Insel Zamalek Siegesgesänge anstimmten und mit hupenden Autokorsos durch die Straßen kurvten, brach 400 Kilometer entfernt, in der Suez-Stadt Port Said, die Hölle los. Von allen Seiten rannten aufgebrachte Menschen zu dem Zentralgefängnis, um die zum Tode Verurteilten zu befreien. Zwei Wachleute starben, während ihre Kollegen die Angreifer zurückschlagen konnten. Die Gewalt eskalierte. Polizeistationen wurden geplündert, Autos angezündet, in der ganzen Stadt waren stundenlang Schusswechsel zu hören. Am Sonntag verzeichneten die staatlichen Behörden 36 Tote, darunter zwei heimische Erstligaspieler, und über 330 Verletzte – die zweite Katastrophe von Port Said im dem von wachsender Anarchie und Gesetzlosigkeit geschüttelten Ägypten.
Die erste Katastrophe, die das Kairoer Strafgericht am Samstag mit seiner spektakulären Serie von Todesurteilen ahndete, ereignete sich fast genau vor einem Jahr. Kaum hatte der Schiedsrichter an jenem 1. Februar die Erstliga-Partie zwischen der aus Kairo angereisten Elf von Al Ahly und dem Team des heimischen Al Masry Clubs abgepfiffen, verwandelte sich das Stadion in ein Inferno. Fans aus Kairo wurden durch Al-Masry-Schläger von den Tribünen in die Tiefe gestoßen, andere von der panisch fliehenden Menge zu Tode getrampelt. Spieler rannten in Todesangst vom Platz, verbarrikadierten sich in den Kabinen und flehten über Handy um ihr Leben. Dutzende Opfer lagen nach dem kollektiven Blutrausch erschossen oder erstochen auf dem Rasen. Am Ende beklagte die geschockte Nation 74 Tote und über 1000 Verletzte.
Seit dem Wochenende nun hat die Armee in Port Said und Suez das Heft in die Hand genommen. Überall in den Straßen sind gepanzerte Fahrzeuge aufgefahren, wichtige Regierungsgebäude werden von Soldaten bewacht. Präsident Mursi sagte am Sonntag seine Reise zum Afrika-Gipfel nach Addis Abeba ab. Ob der ägyptische Staatschef wie geplant am kommenden Mittwoch nach Berlin kommt, ist unklar.