Als die Berliner Mauer am 9. November 1989 geöffnet wurde, war der Spanier Enrique Barón Crespo Präsident des Europäischen Parlamentes – und blieb es bis Anfang 1992. Der heute 75-Jährige gehört damit zu jenen Spitzenpolitikern, die die deutsche Einheit und das Ende des Ost-West-Konfliktes mitgestalteten. Enrique Barón Crespo gehört der sozialistischen Arbeiterpartei PSOE an.
Enrique Barón Crespo: Ich erhielt den Anruf einer Journalistin, die mir die Nachricht überbrachte und nach einem Statement fragte. Doch zunächst wollte ich mehr wissen, vor allem hören, ob es friedlich abgegangen war. Es schien ein völlig überraschendes und auch unerwartetes Ereignis. Natürlich gab es den ganzen Sommer 1989 über Vorzeichen, beispielsweise als die ungarische Regierung den Grenzzaun öffnete. Aber ich kann wohl wirklich sagen: Damit hatte niemand gerechnet. Und allen war sofort klar, dass hier ein Jahrhundert-Ereignis stattfand.
Barón Crespo: Es gab an demselben Abend und in den Tagen danach viele Gespräche. Und alle drehten sich ganz schnell darum, dass es hier nicht nur um die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern um die Einigung Europas ging. Ich habe am Tag danach in einem Statement die Öffnung der Mauer begrüßt und Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterand und Bundeskanzler Helmut Kohl ins Parlament eingeladen. Es war sehr bewegend zu sehen, wie zunächst den Staatenlenkern und dann auch den Parlamentariern klar wurde, was da gerade passierte. Wissen Sie, die meisten der damaligen Abgeordneten hatten noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Und nun spürten sie, dass diese Phase der Nachkriegszeit abgeschlossen werden könnte. Aber alle ahnten sehr bald, dass die Wiedervereinigung Deutschlands im Raum stand und nicht mehr aufgehalten werden konnte.
Barón Crespo: Ich denke, das haben wir dann Mitte 1991 verstanden. Ich war damals in Moskau, als der letzte Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion stattfand. Danach haben wir gewusst: Es gibt keine Sowjetunion mehr. Aber auch das hatte niemand auf der Agenda. Kein Thinktank, keiner der politischen Experten, keine Regierungen konnte vorausahnen, was da geschah.
Barón Crespo: Da waren mehrere Dinge wichtig. Mitterand hatte eine klare europäische Perspektive. Dass er mit Kohl auf eine Linie kam, lag daran, dass der deutsche Kanzler ebenfalls die Entwicklung in Europa in den Vordergrund stellte. Und deshalb hat das Europäische Parlament mit großer Einigkeit die Entwicklung in Deutschland und zu einem gemeinsamen Europa unterstützt.
Barón Crespo: Nein. Sie müssen die Ereignisse im Zusammenhang sehen. In Deutschland fiel die Mauer. In Polen bekam die Solidarnoœæ-Bewegung bei der Wahl 99 Prozent aller Mandate. In Ungarn gab es im Parlament starke Stimmen, die für die Freiheit in einem gemeinsamen Europa eintraten. Das alles zusammen zeigt diese gewaltige Aufbruchsstimmung. Es ging nur darum, wie man das alles zu einer großen neuen Idee zusammenführen sollte.
Barón Crespo: Das ist schon ein gewaltiger Bruch, den es zu überwinden gilt. Es gibt viele Entwicklungen, die wir verurteilen. Aber wir sollten uns auch mit den kritischen und skeptischen Stimmen auseinandersetzen. Ja, wir müssen uns daran erinnern, was das für ein überwältigendes Gefühl war, als die Menschen in den Ländern im Osten endlich wussten: Wir sind frei. Sie waren so glücklich, all die Jahre der Zwangsherrschaft überwunden zu haben. Sie wollten eine Heimat ohne Diktatur und ein demokratisches Gemeinwesen. Die Menschen der Länder, die damals zum Osten gehörten, haben ein großes Geschenk bekommen – und das übrige Europa auch. Heute sind wir Partner auf der Grundlage gemeinsamer Werte, um deren Erhalt wir immer wieder neu ringen müssen. Die Botschaft heißt deshalb: „Erinnert euch. Wir dürfen nie wieder zurückgehen.“
Barón Crespo: Die erste Liebe ist immer voller Romantik. Der Alltag erscheint danach immer schwieriger. Europa ist ein Masterplan, mit dem alle Länder in Frieden und Wohlstand leben können. Dazu müssen wir Brücken bauen, anstatt auf rückwärts gerichtete Parolen zu vertrauen. Ich höre die euroskeptischen und nationalistischen Stimmen in einigen Ländern. Aber die Vergangenheit lehrt uns, dass diese Stimmen kein Weg für die Zukunft sind. Wir haben vor 30 Jahren etwas überwunden, was Europa Unfreiheit und Zwang gebracht hat. Das sollten wir nie vergessen.