Ahmet schnappt sich ein Handy, das vor ihm auf dem Tresen liegt. „Vor einem Monat hätte die Reparatur dieses Telefons noch um die 300 Lira gekostet“, sagt er. „Heute muss ich das Doppelte verlangen.“ Er lässt das Gerät wieder auf den Tisch fallen, auf dem Dutzende andere auf neue Displays oder Akkus warten, die Ahmet in seinem kleinen Laden in Istanbul einbaut. Bis vor kurzem konnte er noch gut vom Reparaturgeschäft leben, die Nachfrage war groß. Doch damit ist es jetzt vorbei. „Wenn das so weitergeht, muss ich den Laden dichtmachen.“
Der Smartphone-Spezialist in der Innenstadt der Millionenmetropole ist ein Opfer der Währungskrise, unter deren Druck die Lira regelrecht zerbröselt. Innerhalb von nur einer Woche hat die türkische Währung fast 25 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar eingebüßt, seit Jahresbeginn sind es mehr als 40 Prozent. Jeden Tag dreht sich die Spirale etwas schneller, und jeden Tag rückt für Ahmet die Pleite etwas näher. Die Ersatzteile für seine Geräte kauft er in China. Er muss sie in Dollar bezahlen. Seine Kunden bezahlen ihn jedoch in Lira, und so muss Ahmet die Preise immer weiter erhöhen, um über die Runden zu kommen. Irgendwann können sich die Leute eine Reparatur nicht mehr leisten – und dieser Punkt, sagt Ahmet, sei bald erreicht. „Es wird immer schlimmer.“
Wenn es nach den türkischen Behörden geht, sollte sich Ahmet solche pessimistischen Szenarien lieber verkneifen, denn er könnte sich strafbar machen. Der Lira-Absturz sei schließlich Teil eines Komplotts der USA gegen die Türkei, sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan, ein „Wirtschaftskrieg“ sei das. Mit Verboten, Drohungen und Strafverfolgung geht Ankara deshalb gegen Bürger und Unternehmen vor, die ihr Geld in Sicherheit bringen wollen, indem sie Lira in Dollar tauschen, oder die das Vorgehen der Regierung kritisieren. Jeder, der die angeblichen „Angriffe“ durch Äußerungen oder Beiträge in den sozialen Medien unterstütze, riskiere eine Anklage, lässt die Staatsanwaltschaft von Istanbul die Bürger wissen. Bis zum Montagnachmittag sind fast 350 Nutzer sozialer Medien ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Die Krise, so scheint es, soll totgeschwiegen werden.
Man darf ja eines nicht vergessen: Die Wirtschaft des Landes hat eine lange Phase kräftigen Aufschwungs hinter sich – genau genommen, seit Erdogan und seine Partei AKP das Sagen haben, seit 2002 also. Zuvor betrug die Inflation mehr als 40 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen war niedrig und der Staat nahezu pleite. Mit Erdogan kam die Wende. Er privatisierte Staatsunternehmen, senkte die öffentliche Verschuldung, erleichterte Investitionen ausländischer Firmen und damit die Entstehung neuer Arbeitsplätze. Der Aufschwung war erstaunlich, das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich, die Teuerungsrate fiel deutlich. Dann drehte sich das Blatt.
Das Wirtschaftswachstum lag 2017 zwar bei 7,4 Prozent. Doch Ökonomen warnen schon lange vor einer Überhitzung. Zudem haben sich ausländische Investoren zurückgezogen. Die Inflation liegt schon wieder bei fast 16 Prozent, Firmen und Banken haben hohe Schulden in Fremdwährungen angehäuft. Die Politik Erdogans, vor allem nach dem gescheiterten Militärputsch 2016, schreckte noch mehr Investoren ab. Nun hat sich die Lage binnen weniger Tage zugespitzt. Die Lira ist am Boden, und die Angst ist groß, dass die Unternehmen ihre Kredite nicht mehr bedienen können. Es ist die schwerste Währungskrise seit dem Kollaps des türkischen Finanzsystems 2001.
Ökonomen dringen auf eine Anhebung der Leitzinsen, um die Inflation zu senken und den Verfall der Lira zu stoppen. Erdogan dagegen sieht Zinsen als ein „Instrument der Ausbeutung“ und dringt auf ihre Senkung, um das Wachstum nicht zu gefährden, auf dem sein politischer Erfolg gründet. Nun droht er allen Unternehmen, die mit dem Gedanken spielen, sich mit dem Ankauf von Dollar oder Euro gegen den Absturz der Lira abzusichern. Sollte eine Firma diesen Weg gehen, dann gebe es einen „Plan B und einen Plan C“, warnt der Präsident am Wochenende. Konkreter wird er nicht. Doch die Türken verstehen auch so, was er sagen will. So deutlich kommt die Botschaft bei den Türken an, dass die Regierung in der Nacht zum Montag mehrfach erklären muss, dass an eine Beschlagnahmung von Fremdwährungskonten nicht gedacht werde.
Konkret wird Erdogan dagegen, als er auf die Ursache der Krise zu sprechen kommt. „Ein Netzwerk des Verrats“ sei am Werk, um der Regierung den Plan zur Beschlagnahmung von Kapital vorzuwerfen. Das werde nicht geduldet. Der Präsident will „Wirtschaftsterrorismus“ in Kommentaren in den sozialen Medien ausgemacht haben. Der Ton verschärft sich mehr und mehr.
Mustafa Sönmez ist einer jener Kritiker, auf die Erdogan mit seinen Drohungen zielt. Der regierungskritische Wirtschaftsexperte hat die Türken davor gewarnt, dass die Geldautomaten im Land womöglich bald den Dienst einstellen könnten. Prompt riefen regierungsnahe Medien die türkische Polizei auf, gegen den angeblichen amerikanischen Agenten vorzugehen. Er solle wohl als Kollaborateur im angeblichen „Krieg“ gegen die USA abgestempelt werden, sagt Sönmez dieser Redaktion. Bisher habe sich die Staatsanwaltschaft nicht bei ihm gemeldet. Er sei auch nicht sehr beunruhigt, denn er habe schon sieben oder acht Mal wegen umstrittener Äußerungen bei der Justiz vorsprechen müssen. Eines steht für Sönmez aber fest: Die Krise lasse sich nicht stoppen, indem man die Wahrheit unterdrücke. Seine Kritik an der Politik der Regierung will er jedenfalls fortsetzen. „Das ist meine Aufgabe und auch mein Recht.“
Schon eher nach dem Geschmack der Regierung ist eine Gruppe von Herren in Anzügen, die sich auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul versammeln. Die Abordnung des Unternehmerverbandes Tümkiad marschiert zu einer Bankfiliale und tauscht drei Millionen Dollar in Lira um – ganz im Sinne von Erdogans Appell an die Türken, sie sollten westliche Währungen verkaufen und auf die Lira setzen, um die Landeswährung zu stützen. „Wir brauchen keine Dollar, wir brauchen unser Vaterland“, steht auf Schildern, die die Tümkiad-Mitglieder hochhalten. Die Türkei sei im Krieg, verkündet im Erdogan-Stil Verbandschef Nihat Tanrikulu, der die Überweisungszettel seiner Dollar-Aktion noch in der Hand hat. „Nein zum Dollar!“, ruft er. Die rund 300 Mitglieder seiner Vereinigung wollen auch weiter Dollar-Erlöse aus dem Export von Textilien, Lebensmitteln und anderen Produkten sofort in Lira umwandeln, um ihrem Land zu helfen. Längst nicht alle Türken wollen dem patriotischen Beispiel folgen. Die Mitarbeiterin einer Wechselstube in der Nähe des Taksim-Platzes erzählt von Türken, die den umgekehrten Weg gehen und Lira in Dollar tauschen, um ihre Ersparnisse vor der Geldentwertung in Sicherheit zu bringen. „Sie holen sich Dollar von den Banken und von uns“, sagt die Dame. Selbst in der schweren Wirtschaftskrise von 2001 sei es nicht so schlimm gewesen wie heute. „Die Leute haben Angst.“ Im Großen Bazar der Stadt sollen sich vorige Woche zwei Händler aus Verzweiflung über ihre Lage das Leben genommen haben, heißt es.
Es gibt aber auch Leute, die von der Talfahrt der Währung profitieren. Mehmet, ein Frisör, hat mehrere Türken aus Deutschland unter seinen Kunden, die dort Euro verdienen, in den Ferien in der Türkei aber Lira ausgeben. „Die leben jetzt hier in Saus und Braus“, sagt Mehmet. Ein anderer Händler erwartet einen neuen Ansturm westlicher Besucher: „Die Türkei ist für die jetzt praktisch gratis zu haben.“ Tatsächlich drängen sich am Montag in einem feinen Einkaufszentrum arabische Touristen vor Geschäften mit Luxusgütern. Diese werden jetzt für jeden billig, der Dollar oder Euro in der Tasche hat.
Wie lange das Drama noch dauern wird, weiß niemand. Die Schwäche der Lira ist mitnichten die Folge einer finsteren Verschwörung des Auslands, sondern zu großen Teilen hausgemacht. Seit Jahresbeginn hat Erdogan internationale Anleger mehrmals mit der Ankündigung erschreckt, er werde sich stärker als zuvor in die Zinspolitik der nominell unabhängigen Zentralbank einmischen. Dass der Präsident dann seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Finanzminister machte, verunsicherte die Investoren noch weiter. Der Streit mit den USA um einen in der Türkei inhaftierten amerikanischen Pastor und die dadurch ausgelösten US-Strafzölle gegen Ankara versetzten der Lira einen weiteren Schlag.
Angesichts einer Verschuldung von 470 Milliarden Dollar und eines Außenhandelsdefizits von fast 60 Milliarden könne man wohl kaum von einem Komplott des Auslands sprechen, schimpft der Oppositionspolitiker Hursit Günes auf Twitter. „Lasst doch diese Lügen sein“, fügt er an die Adresse der Regierung gerichtet hinzu. Doch von einem Umlenken ist in Ankara nichts zu sehen. „Unsere Wirtschaft ist unter Belagerung“ ausländischer Kräfte, sagt Erdogan bei einer Rede. „Wir sind auf den Krieg vorbereitet.“
Mit zusätzlicher Liquidität für die Banken versucht die Zentralbank nun, den Lira-Kurs abzufangen. Das gelingt am Montag nur vorübergehend. Am Nachmittag rutscht die Währung, die zwischenzeitlich auf den Wert von 6,40 Lira pro Dollar geklettert war, wieder auf rund sieben Lira für einen Dollar ab. Trotzdem gibt es aus Erdogans Sicht keinen Grund zur Sorge. Seine Landsleute sollen das ganze Krisengerede nicht ernst nehmen, sagt er. „Innerhalb kurzer Zeit werden die Dinge wieder ins Lot kommen.“ Für Leute wie Ahmet in seinem Handy-Laden in Istanbul könnte es dann zu spät sein.