Die Idee war couragiert und visionär, aber sie barg das Risiko, die Menschen zu überfordern: Nur fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges schlug der damalige französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vor. Bisherige Erzfeinde sollten partnerschaftlich zusammenarbeiten. Wer hätte sich vorstellen können, dass die noch vom Grauen des Krieges geprägte öffentliche Meinung zu diesem Schritt schon bereit sein würde? Schuman selbst – und er sollte recht behalten. So wurde er zu einem der entscheidenden Wegbereiter der Europäischen Union, der Aussöhnung einstiger Rivalen aufs Blut.
Vor 50 Jahren, am 4. September 1963, starb der deutsch-französische Staatsmann – ausgerechnet in dem Jahr, dessen Jubiläum aus einem anderen Grund gefeiert wird. Die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar 1963 durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle gilt heute als Meilenstein für die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich, da er eine regelmäßige Abstimmung auf allen Ebenen festschrieb sowie die Schaffung des Deutsch-Französischen Jugendwerks.
Der Historiker und Publizist Alfred Grosser wird nicht müde zu betonen, dass der deutsche Kanzler und der französische Präsident heute zu Unrecht im Vordergrund stehen als vermeintliche Begründer der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit. Diese habe bereits vor ihrer symbolträchtigen Unterschrift begonnen: „De Gaulles Hauptziel war nicht Freundschaft mit Deutschland, sondern der Versuch, es vom amerikanischen Einfluss fernzuhalten. Adenauer hat nach de Gaulles triumphaler Deutschlandreise im September 1962 einen handgeschriebenen Brief an Robert Schuman geschickt, um zu sagen, dass er ständig mit Dankbarkeit an ihn dachte als derjenige, der mit seiner Rede am 9. Mai 1950 den Grundstein zur deutsch-französischen Freundschaft gelegt hatte.“
Die von Schuman angestoßene und am 18. April 1951 in Paris gegründete Montanunion mit den Gründungsmitgliedern Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg, bei der die Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Obersten Aufsichtsbehörde unterstellt wurde, war die erste der europäischen Institutionen, die zur heutigen EU führten. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion sollte einen weiteren Krieg laut Schuman „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich machen“. Auch sicherte der Zusammenschluss der Interessen der Mitgliedstaaten deren wirtschaftliche Entwicklung. Dieser erste Wirtschaftsverband brachte allen einen greifbaren Vorteil. „Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung“, hatte Schuman erklärt. Auch damit sollte er recht behalten – bis jetzt.
Denn heute, wo der Frieden in Europa eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, ringen die Mitglieder der Europäischen Union um die Tiefe der Integration im Spannungsfeld nationaler Interessen und gemeinsamer Weiterentwicklung. Und gilt Schuman wie auch sein enger Mitarbeiter Jean Monnet, der den Entwurf zur Montanunion weitgehend entworfen hatte, als wichtiger Vordenker, so vermissen Beobachter wie Alfred Grosser bei heutigen Staatsfrauen und -männern den Mut zum weitsichtigen, wenn auch unpopulären Eintreten für eine noch engere Zusammenarbeit. So wie Robert Schuman ihn bewiesen hat.
Robert Schuman
In Luxemburg geboren 1886 als Sohn eines Lothringers, der 1871 Deutscher geworden war, und einer Luxemburgerin, die durch die Heirat ebenfalls die deutsche Nationalität erhielt, wurde Robert Schuman nach dem Ersten Weltkrieg und der Rückgabe von Elsass-Lothringen Franzose. Früh engagierte sich der Jurist in der Politik, schloss sich im Zweiten Weltkrieg der Résistance an, wurde nach Kriegsende französischer Ministerpräsident und Außenminister, später Justizminister und 1958 erster Präsident des Europäischen Parlamentes.