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WASHINGTON/KABUL
Was trieb den US-Amokläufer zur Tat?
Von dpa-Korrespondent Peer Meinert
 |  aktualisiert: 05.11.2015 20:38 Uhr

Der mutmaßliche Amokschütze von Kandahar ist in ein Militärgefängnis im US-Bundesstaat Kansas gebracht worden. Der 38 Jahre alte Unteroffizier Robert Bales sei am Freitag (Ortszeit) in Fort Leavenworth eingetroffen, berichtete die „New York Times“ unter Berufung auf namentlich nicht genannte Militärquellen. Offiziell sei er noch nicht angeklagt, doch ihn erwartet in den USA ein Militärprozess. Verteidigungsminister Leon Panetta machte kürzlich bereits klar, dass die Anklage die Todesstrafe verlangen könnte. Angeblich war bei dem Verbrechen auch Alkohol im Spiel.

Dem zweifachen Familienvater wird vorgeworfen, bei einem Amoklauf vor einer Woche in der südafghanischen Provinz Kandahar 16 Zivilisten getötet zu haben, darunter neun Kinder. Die Bluttat löste heftige Reaktionen aus. Das Parlament in Kabul hatte ein öffentliches Verfahren gegen den US-Soldaten in Afghanistan verlangt.

Das afghanische Parlament geht entgegen der Darstellung der US-Armee nicht von einem Einzeltäter aus. „Mehr als ein Dutzend Soldaten (...) haben Dorfbewohner getötet und dann die Leichen verbrannt“, sagte der Abgeordnete Nahim Lalai Hamidsai aus Kandahar am Sonntag. Das habe die Untersuchung einer Parlamentskommission ergeben, der Hamidsai angehört. „Alle Dorfbewohner, mit denen wir gesprochen haben, sagten, dass 15 bis 20 Mann da waren.“

Angesichts der Bluttat forderte das Parlament Präsident Hamid Karsai auf, ein Abkommen aufzulösen, dass ausländische Soldaten vor Strafverfolgung durch afghanische Behörden schützt. Die Resolution sei einstimmig verabschiedet, von Karsai aber zunächst nicht unterzeichnet worden, sagte Hamidsai. Bislang werden Straftaten in den jeweiligen Truppenstellernationen verfolgt.

Bales war zunächst nach Kuwait ausgeflogen und dort auf einer US-Militärbasis untergebracht worden. Wie US-Medien berichteten, wollten die dortigen Behörden ihn jedoch nicht länger im Land behalten.

Während das US-Verteidigungsministerium die Identität des mutmaßlichen Amokschützen aus Sicherheitsgründen geheim gehalten hatte, veröffentlichten US-Medien den Namen des Mannes.

Laut „New York Times“ könnten Stress, Eheprobleme und Alkohol den Amoklauf ausgelöst haben. Der Unteroffizier habe in der Nacht vor dem Massaker getrunken. Zwischen dem Soldaten und seiner Frau habe es Spannungen gegeben. Zudem habe er unter Stress wegen seines inzwischen vierten Kriegseinsatzes gelitten. „Am Ende wird es eine Kombination aus Stress, Alkohol und häuslichen Problemen sein – er ist einfach ausgerastet“, sagte ein Regierungsbeamter dem Blatt.

Der Anwalt des Unteroffiziers, John Henry Browne, bezeichnete die Berichte über Eheprobleme seines Mandaten dagegen als „Unsinn“. Er habe auch Zweifel, dass Alkohol und Stress im Spiel gewesen seien. Allerdings sei auch klar, dass praktisch jeder auf einer abgelegenen Basis in Afghanistan unter Stress stehe.

Das Foto des mutmaßlichen Amokläufers Robert Bales, das derzeit durch die amerikanischen Medien geht (siehe links unten), zeigt einen jugendlichen, sympathischen Mann mit schwerem Armeehelm. Strahlendes, unbeschwertes Lächeln, von Tod und Leid des Krieges keine Spur. Das Bild könnte aus einem Werbespot der US-Army stammen. Die Botschaft: So schön kann Krieg sein.

Doch der Mann mit dem Siegerlächeln sitzt derzeit in einer schwer bewachten Arrestzelle auf einem Armeestützpunkt im US-Bundesstaat Kansas und wartet auf seinen Militärprozess. Die Tat, die der Unteroffizier begangen haben soll, repräsentiert die dunkelste Seite eines mittlerweile über zehn Jahre langen Krieges. Amerika ist schockiert.

Hilflos fragt sich das Land, was den 38-jährigen Ehemann und Vater zweier Kinder zu seiner Gräueltat angetrieben haben könnte. Neun Kinder und sieben Erwachsene in einem nächtlichen Amoklauf abgeschlachtet – irgendwie muss das doch zu erklären sein?

Stück für Stück setzten amerikanische Medien derzeit Leben und Militärkarriere des Mannes zusammen. Zunächst handelt es sich allem Anschein nach um eine Bilderbuchkarriere: Nach den Terroranschlägen im September 2001 trat er in die Armee ein, später wurde er zum Scharfschützen ausgebildet. Ein guter, ein verlässlicher Soldat sei er gewesen, dreimal im Irak im Einsatz, dann nach Afghanistan. Ein Kamerad erzählt sogar, er habe ihm im Irak das Leben gerettet. Erklärung für das Blutbad – Fehlanzeige. Der Anwalt des Beschuldigten schließt auch rassistische Gründe aus. „Er hat niemals etwas Feindliches gegen Muslime gesagt.“ Überhaupt sei sein Mandant kein aggressiver Typ, eher ein ruhiger und milder Charakter.

Allerdings habe sein Mandant erst vor kurzem mit ansehen müssen, wie einem Kameraden von einer Mine ein Bein weggerissen worden sei. Und auch sonst habe er unter Druck gestanden: Nach drei Kriegseinsätzen im Irak habe die Armee seinen Mandaten im Glauben gelassen, dass es jetzt genug sei. „Ihm und seiner Familie ist gesagt worden, dass es mit den Nahost-Einsätzen zu Ende ist.“ Der Unteroffizier sei nicht gerade gerne nach Afghanistan gegangen.

Ein weiterer Hinweis, dass der Beschuldigte unter posttraumatischen Störungen der Kriegseinsätze gelitten haben könnte: 2010 habe er im Irak einen Autounfall erlitten. Der Humvee, in dem er saß, habe sich überschlagen, er habe Gehirnverletzungen davongetragen.

Nicht ausgeschlossen, mutmaßt der Anwalt, dass diese zu Persönlichkeitsstörungen und mangelnder Kontrolle geführt hätten. Sogar von einer möglichen zweiten Kopfverletzung ist die Rede. Das strahlende Bild des lächelnden Soldaten verdüstert sich mehr und mehr.

Offiziell haben die Militärrichter noch nicht einmal Anklage erhoben. Die Frau und die beiden Kinder des mutmaßlichen Amokläufers sind erst einmal auf den Heimatstützpunkt des Soldaten im Bundesstaat Washington gebracht worden – aus Sicherheitsgründen, wie es heißt.

 
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