Es war ein Abend unter Freunden. Das „Refik“ in Istanbul, ein Traditionslokal im Ausgehviertel Beyoglu. Man schrieb das Jahr 1998, und die am Tisch versammelten Journalisten und Intellektuellen waren gekommen, um einen Kollegen zu verabschieden: Ragip Duran. Bei türkischen Vorspeisen und dem Nationalschnaps Raki feierte der Reporter seinen vorerst letzten Abend in Freiheit. Wegen eines Artikels über PKK-Chef Abdullah Öcalan war Duran zu siebeneinhalb Monaten Haft verurteilt worden.
Der Abend mit ihm war eine der ersten Gelegenheiten, bei der ich einen Einblick in den dunklen Alltag der Türkei erhielt. Ich war erst einige Monate in Istanbul, um hier als Reporterin zu arbeiten, und versuchte, mir ein Bild von diesem wunderbaren und widersprüchlichen Land zu machen. Damals wusste ich nicht, dass ich 18 Jahre bleiben und viele umwälzende Veränderungen beobachten würde - und am Ende meiner Zeit am Bosporus eine deprimierende Wiederkehr alter Muster stehen würde.
„Es gibt drei wichtige Ereignisse, die jeder türkische Mann in seinem Leben durchmachen muss“, sagte Duran damals in seiner Tischrede: „Beschneidung, Wehrdienst, Gefängnis.“ Galgenhumor war weit verbreitet unter den Journalisten eines Landes, in dem kritische Kommentare zur Kurdenpolitik leicht in einer Gefängnisstrafe enden konnten. „Gedankenverbrechen“, lautete das Stichwort. Artikel zur Kurdenfrage konnten auch dann als Terrorakt gewertet werden, wenn sie keinen Gewaltaufruf enthielten, sondern nur kritische Gedanken.
„Wir wollen ein Land sein, in dem es keinen Druck mehr auf Meinungsäußerungen gibt“, sagte Duran dann, als er im Gefängnis Saray nordwestlich von Istanbul seine Haftstrafe antrat. Wenige Jahre später sah es ganz danach aus, als würde Durans Wunsch in Erfüllung gehen. Die Meinungsfreiheit wurde gestärkt, der Raum für kritische Diskussionen erweitert. Doch mittlerweile schlägt das Pendel zurück. Heute wie damals wandern türkische Journalisten hinter Gitter, weil Artikel, Facebook-Kommentare oder Tweets als Unterstützung für die PKK oder als Beleidigung des Präsidenten eingestuft werden.
Beide Entwicklungen - die türkische Reformphase, die 2002 begann, sowie die Rückkehr der „Gedankenverbrechen“ - hängen eng mit der Politik eines Mannes zusammen, der kurz nach Durans Inhaftierung in einem Gefängnis ganz in der Nähe ebenfalls für einige Monate einfuhr: Recep Tayyip Erdogan. Auch er wurde wegen einer Meinungsäußerung eingesperrt. In einer Rede hatte er aus einem Gedicht zitiert, in dem die Moscheen als Kasernen der Gläubigen bezeichnet werden. Die säkularistische türkische Justiz, die den Aufstieg des äußerst erfolgreichen islamistischen Bürgermeisters von Istanbul unbedingt stoppen wollte, legte das Zitat als religiöse Volksverhetzung aus.
„Militante Demokratie“, nannte der damalige türkische Generalstaatsanwalt Vural Savas diese Art der Drangsalierung. Savas ging mit besonderer Vorliebe gegen Islamisten und Kurden vor, die für ihn im Dauerverdacht staatszersetzender Umtriebe standen. Der Jurist verkörperte das kemalistische Establishment der Türkei: Die Kemalisten, benannt nach Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, stellten seit Gründung der Republik 1923 die Führungseliten des Landes in Politik, Justiz, Bürokratie und Armee. Der politische Islam und die Kurdenbewegung waren ihre Hauptfeinde, politische und ethnische Vielfalt waren ihnen suspekt.
Vier Mal setzten die kemalistischen Militärs im Laufe der Jahrzehnte gewählte Regierungen ab, mal mit Panzern auf den Straßen, mal mit politischem Druck allein. Zuletzt zwangen die Generäle wenige Monate vor meiner Ankunft in Istanbul ein Kabinett zum Rücktritt.
Kemalisten taten auch sonst alles, um Leute wie Erdogan von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. Das Kopftuchverbot an Universitäten und in anderen Institutionen war ein Instrument dieser Politik. Die Repression der frommeren Bevölkerungsmehrheit wurde zu einem Hauptmotiv für Erdogans Handeln: Bis heute sieht sich der zum Präsidenten aufgestiegene Mann aus dem Istanbuler Schlägerviertel Kasimpasa als Opfer.
Ich erlebte, wie die kemalistischen Führungskader in der Wirtschaftskrise 2001 politisch bankrottgingen und wie die Türken dem aus der Haft entlassenen Erdogan zujubelten. Während Normalbürger mit horrenden Inflationsraten von 70 Prozent und mehr zurechtkommen mussten, wurden Vertreter der Führungsschicht dabei gefilmt, wie sie kofferweise unterschlagenes Geld fortschleppten.
Schon damals verstand es der aus einfachen Verhältnissen stammende Mann, im Wahlkampf die eigenen Anhänger gegen die „anderen“ zu mobilisieren und den viel zitierten Leitsatz des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau umzudrehen: Spalten statt versöhnen. „Jawohl, ich habe Sesamkringel, Zitronen und Wasser auf der Straße verkauft“, rief der damals 48-jährige Erdogan vor der Parlamentswahl im November 2002 aus. „Den anderen ist alles in den Schoß gefallen, sie verstehen nichts von den Sorgen des Volkes. Das ist der Unterschied.“
Auf Anhieb kam die von Erdogan gegründete islamistische Reformpartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) bei der Wahl an die Macht. Sie setzte ein vom Internationalen Währungsfonds ausgearbeitetes Wirtschaftsprogramm um und leitete damit einen Aufschwung ein, der Millionen von Türken in der Folge einen bis dahin ungeahnten Wohlstand bescherte. So konnten sich Normalverdiener zum ersten Mal in ihrem Leben ein Auto leisten. Zwischen 2002 und 2012 verdoppelte sich die Zahl der Fahrzeuge auf türkischen Straßen.
Während ich in Istanbul immer häufiger im Stau stand, gingen Erdogan und seine Leute daran, viele der Restriktionen und Verbote aus dem Weg zu räumen, über die sich Duran und andere so lange beklagt hatten. „Wir wollen die EU schocken“, sagte der erste AKP-Ministerpräsident und spätere Staatsschef Abdullah Gül über das Reformprogramm seiner Partei. 2005 zeigte sich die EU so beeindruckt davon, dass sie dem Beginn von Beitrittsverhandlungen zustimmte.
Es war eine Zeit, in der ich als Berichterstatter das atemberaubende Aufblühen eines Landes erlebte, das wie aus einem Dornröschenschlaf erweckt wirkte. Staatsbetriebe wurden reihenweise privatisiert, überall neue Straßen gebaut, die Bau- und Immobilienbranche explodierte und die Menschen erhielten mehr Freiraum, um ihre Meinung offen zu sagen. Im Kurdengebiet schwiegen die Waffen; als erster türkischer Ministerpräsident sprach Erdogan 2005 öffentlich von einem „Kurdenproblem“. Bis dahin hatte es aus Sicht Ankaras immer nur ein „Terrorproblem“ gegeben.
Allerdings verschwanden die Schatten der Repression und des obrigkeitsstaatlichen Denkens nie ganz. Als Polizisten im März des Jahres in Istanbul in eine Frauendemonstration hinein prügelten, konnte Erdogan keinen Fehler bei ihnen erkennen - dafür aber bei den Medien, die mit den Fernsehbildern des brutalen Polizeieinsatzes das Land bei der EU „verpetzt“ hätten.
Es kam noch schlimmer. Im Dezember wurde der spätere Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt, weil er die Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern 1915 forderte. Ich beobachtete die hasserfüllten Proteste türkischer Nationalisten im Gericht.
In meiner Arbeit wurde ich immer häufiger mit unverarbeiteten Konflikten konfrontiert, die nach oben gespült wurden. Die Kämpfe im Kurdengebiet lebten wieder auf. Die Kemalisten versuchten mehrmals, Erdogan und die AKP mit Putschdrohungen und einem Parteiverbotsverfahren von der Macht zu verdrängen. Doch die Regierung wehrte die Angriffe ab und brachte Gül 2007 ins Präsidentenamt - der erste türkische Staatschef aus der islamistischen Bewegung. Güls Frau Hayrünnisa wurde zur ersten türkischen First Lady mit Kopftuch.
2011 wurde zum Wendepunkt für den Machtkampf zwischen der AKP und den Kemalisten, aber auch für die Demokratisierungsbestrebungen im Land. Erdogan fuhr einen erneuten Erdrutschsieg ein und wagte die offene Konfrontation mit den Militärs, die er für sich entschied: Die Tradition der Einflussnahme der Generäle war gebrochen.
Erdogan war nun der unumschränkte Herrscher und ließ sich als „Meister“ verehren, während der Reformer Gül ins Abseits geriet. Mit immer drastischeren Mitteln geht Erdogan, inzwischen Staatspräsident, gegen alle vor, die ihm und seinem Plan zur Einführung eines Präsidialsystems im Wege stehen. Einer seiner Berater sagte kürzlich, außer Erdogan solle niemand mehr in der Türkei Politik machen. Schließlich kümmere sich der Präsident schon um alles.
Mit dem Präsidialsystem will Erdogan nicht nur seine eigene Macht noch weiter stärken. Mit seinem Prunkpalast in Ankara und seiner Flut von Beleidigungsklagen gegen Kritiker zeigt er inzwischen eh deutliche Anzeichen einer undemokratischen Herrschsucht. Erdogan will die Entmachtung der Kemalisten unumkehrbar machen.
Auch wir ausländischen Journalisten bekommen den wachsenden Druck zu spüren. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft im Land verweigerten die Behörden in den vergangenen Monaten einigen Kollegen die Neu-Akkreditierung. Andere wurden nach Reisen nicht mehr ins Land gelassen, eine niederländische Reporterin wurde ausgewiesen.
Das ist allerdings nichts gegen das, was türkischen Reportern blüht. Mehrere regierungskritische Zeitungen sind verstaatlicht worden, Journalisten wanderten ins Gefängnis, manche müssen wegen ihrer Artikel mit lebenslanger Haft rechnen. Es klingt wie ein Relikt aus längst überwunden geglaubten Zeiten, wenn Erdogan heute erklärt, kein einziger Berichterstatter sitze wegen seiner Arbeit ein - lediglich die Unterstützung von Terroristen durch Journalisten werde geahndet. Dasselbe Argument wurde 1998 schon gegen Ragip Duran ins Feld geführt.
Selbst alte Reporter-Haudegen wie Aydin Engin, der den Mächtigen in der Türkei schon so lange suspekt ist, dass er vor dem Militärputsch von 1980 nach Deutschland floh, kann sich nicht an schlimmere Zeiten erinnern. Die Justiz brauche nicht einmal mehr einen vernünftigen Grund, um Journalisten zu inhaftieren, sagte Engin mir vor kurzem. „Ich sehe nur Dunkelheit.“
Wenn ich nun nach fast 20 Jahren die Türkei verlasse, wird mir dieser Satz in Erinnerung bleiben. Ein Land, das einst daran ging, seine undemokratische Vergangenheit abzuschütteln, ist dabei, zu dieser Vergangenheit zurückzukehren.