Es ist Mittwochabend, 19.30 Uhr. In der Zelle 144 des Leipziger Gefängnisses sieht Dschaber al-Bakr seine Chance gekommen, sich einem rechtsstaatlichen Verfahren zu entziehen. Gerade eben hat noch ein JVA-Beamter seine Kontrollrunde gedreht und nach ihm geschaut. Der Haftraum ist 4,54 Meter lang, 2,39 Meter breit und 2,59 Meter hoch. Ein Gitter trennt einen kleinen Vorraum ab. Die nächste Kontrolle würde erst in einer halben Stunde folgen. Al-Bakr zieht sein T-Shirt aus und präpariert es entsprechend. Dann erhängt er sich an einem der Stahlstäbe des Gitters. Um 19.45 Uhr kommt eine Auszubildende und findet den derzeit brisantesten Häftling in Deutschland tot in seiner Zelle. Es ist der traurige Höhepunkt einer Reihe von Pannen in Sachsens Sicherheitsapparat.
Der 22 Jahre alte Bombenbauer, in dessen Chemnitzer Wohnung anderthalb Kilo hochgefährlichen Sprengstoffs gefunden worden sind, war tagelang der meistgesuchte Terrorverdächtige des Landes. Inzwischen gilt als sicher, dass er Kontakte zur Terrormiliz IS hatte. Ein Anschlag auf einen Berliner Flughafen soll unmittelbar bevorgestanden haben. Der kurzen Freude über die Festnahme folgen aber rasch Berichte über handfeste Fehler der Ermittler.
Da ist die rätselhafte Reise nach Syrien und in die Türkei, die den Behörden verborgen blieb. Da ist die ungeschickte Observierung, trotz derer die Polizei nicht herausfinden konnte, in welcher Wohnung sich der Gesuchte aufhielt. Da ist die gescheiterte Festnahme – die Polizei hatte es versäumt, einen zweiten Ring mit Sicherheitskräften um das Haus zu ziehen. Da ist die stundenlange ungestörte Flucht al-Bakrs. Da ist die Festnahme des Verdächtigen durch drei syrische Landsleute. Und nun ist da auch noch der Suizid. Wie konnte es so weit kommen?
Es gab Warnzeichen. Die Ermittlungsrichterin weist am Montag bei der Haftbefehlseröffnung auf die Gefahr der Selbsttötung hin, ebenso der Pflichtverteidiger Alexander Hübner. Schon bei der Aufnahme im Gefängnis verweigert al-Bakr Essen und Trinken. Die Verantwortlichen der JVA erkennen auch eine Gefahr. Sie stecken den Terrorverdächtigen in eine spärlich eingerichtete Einzelzelle mit zusätzlichem Innengitter und ordnen Kontrollen alle 15 Minuten an. Weitergehende Sicherungsmaßnahmen gibt es nicht.
Dienstagmittag führt eine Psychologin mit Hilfe eines Dolmetschers ein ausführliches Gespräch mit al-Bakr. Sie erkennt keine akute Suizidgefahr, sie hat aber auch keinerlei Erfahrung mit islamistischen Terroristen. „Der Gefangene wirkte die ganze Zeit über ruhig und sachlich“, sagt Gefängnisleiter Rolf Jacob. Wurde in der JVA genügend berücksichtigt, dass man es mit einem radikalisierten Mann zu tun hat, dessen Plan es war, das Leben vieler unschuldiger Menschen und sein eigenes zu opfern? Oder, anders ausgedrückt: Konnte die JVA nicht ahnen, dass ein potenzieller Selbstmordattentäter selbstmordgefährdet ist?
Eine Teamsitzung ergibt, dass der Gefangene, dem Vorschlag der Psychologin entsprechend, nur noch jede halbe Stunde kontrolliert wird. Am Dienstagnachmittag um 17.50 Uhr meldet al-Bakr mit Gesten, dass die Deckenlampe in seiner Zelle heruntergefallen sei. Die JVA-Beamten gehen davon aus, dass er sie heruntergerissen hat, stufen dies aber als Vandalismus ein. Sie schalten den Strom im Haftraum ab und kommen von nun an mit der Taschenlampe zur Kontrolle.
Während der Bombenbauer am Mittwoch um 10 Uhr duscht, wird seine Zelle überprüft. Die Bediensteten stellen fest, dass auch an der Steckdose manipuliert worden ist. Die Elektrik wird am Nachmittag repariert, die Sicherheitsvorkehrungen werden nicht hochgefahren. Bei der Kontrolle um 19.30 Uhr sitzt der Syrer auf seinem Bett. Um 19.45 Uhr schon dreht eine Vollzugsdienstanwärterin aus „Dienstbeflissenheit“, wie es heißt, eine weitere Kontrollrunde. Sie findet al-Bakr am Gitter hängend und schlägt Alarm. Wiederbelebungsversuche bleiben erfolglos.
Kann es sein, dass die Polizei und die Justizbehörden in dem östlichen Bundesland den Fall komplett unterschätzt und Dschaber al-Bakr wie jeden x-beliebigen Einbrecher behandelt haben? Es klingt so, wenn die Verantwortlichen in einer Pressekonferenz am Donnerstag erklären, alles sei den üblichen Vorschriften entsprechend gelaufen. Das mag richtig sein. Doch war es richtig, in diesem Fall nur die „üblichen Vorschriften“ anzuwenden? So kommt eine viertelstündliche Kontrolle gar nicht selten vor. Der ehemalige Bertelsmann- und Karstadt-Chef Thomas Middelhoff etwa wurde in seiner Haftzeit auch alle 15 Minuten überprüft, weil er als suizidgefährdet galt. Middelhoff war aber der Untreue und Steuerhinterziehung beschuldigt.
Der Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes (Uni Bochum) sagt, die sächsischen Sicherheitsbehörden hätten „blauäugig“ gehandelt: „Jemand, der offenbar im Auftrag des IS schwere Straftaten geplant hat, setzt auch alles daran, um sich dem weiteren Verfahren nicht stellen und aussagen zu müssen.“
Es hätte mehrere Möglichkeiten gegeben, den speziellen Häftling speziell zu überwachen. Gefängnisse haben „besonders gesicherte Hafträume“. „In denen ist ein Suizid nahezu unmöglich“, sagt Ralf Simon, Vorsitzender des Landesverbands der Bayerischen Justizvollzugsbediensteten. Eine Einrichtung gibt es in diesen Zellen genauso wenig wie Gitter. Die Toilette besteht aus einem Loch im Boden. Der Gefangene ist nur mit einer Papierunterhose bekleidet. Eine Fußbodenheizung sorgt für Wärme. Die rechtlichen Hürden für eine derartige Unterbringung seien jedoch sehr hoch. Nur im Fall einer akuten Gefahr könne der Anstaltsleiter anordnen, den Häftling in eine solche Zelle zu stecken.
Eine andere Möglichkeit ist die dauerhafte Überwachung. Auch sie muss von der Gefängnisleitung befohlen werden. Die Rund-um-die-Uhr-Kontrolle kann per Videokamera erfolgen. In Sachsen ist dies im Gesetz nicht vorgesehen. Es gibt aber als Alternative die „Sitzwache“: Ein JVA-Mitarbeiter setzt sich buchstäblich vor die Zellentür und beobachtet den Gefangenen ständig. Auch dies wurde im Fall Dschaber al-Bakr nicht verfügt. Warum? „Wir sind nicht zu der Einschätzung gekommen, dass eine akute Suizidgefahr vorliegt“, sagt der JVA-Chef Jacob. In eine Gemeinschaftszelle kommt al-Bakr nicht, weil er selbst als gefährlich für andere eingestuft wird.
Aber lassen sich Suizide von Gefangenen generell ausschließen? Die Antwort nahezu aller Experten lautet eindeutig: Nein. Zwar habe das Thema Suizidprävention eine sehr hohe Bedeutung, sagt Bayerns Justizminister Winfried Bausback. „Sie werden aber in keinem Vollzugssystem Selbstmorde von Gefangenen oder versuchte Selbstmorde gänzlich ausschließen können.“ Das liege auch an der Schwierigkeit, Menschen durch Fachleute beurteilen zu lassen.
So gab es trotz aller Vorkehrungen in Bayern in den vergangenen Jahren etliche Suizide. Nach Angaben des Justizministeriums waren es im vergangenen Jahr 13, im Jahr 2014 zehn Selbstmorde und heuer bislang sechs. „Wenn jemand den Vorsatz hat, sich zu töten, dann schafft er das“, sagt Ralf Simon vom Verband der Justizvollzugsbediensteten.
In der JVA Würzburg haben sich im vergangenen Jahr zwei Menschen das Leben genommen. In diesem Jahr ist es einer. Florian Zecha, stellvertretender Leiter der Justizvollzugsanstalt erklärt, was in „seiner“ Haftanstalt geschieht, wenn ein neuer Untersuchungshäftling eingeliefert wird.
Um Suizide zu verhindern, schätzen laut Zecha schon bei der Aufnahme „geschulte Bedienstete“ ein, ob der jeweilige Neuzugang gefährdet ist. Danach gebe es für jeden Häftling ein Gespräch, an dem Mitarbeiter des sozialpädagogischen und des psychologischen Dienstes der Anstalt teilnehmen. Es folge eine ärztliche Untersuchung durch den Allgemeinarzt oder Internisten und den Psychiater der Anstalt.
Wie die JVA Leipzig hat auch die JVA Würzburg eine psychiatrische Abteilung. „Wenn die Fachleute zu dem Ergebnis kommen, dass der Untersuchungsgefangene suizidgefährdet ist, wird er in dieser Abteilung stationär aufgenommen“, sagt Zecha. Laut Zecha kann die JVA zusammen mit dem Anstaltspsychiater entscheiden, ob eine Kameraüberwachung des Gefangenen nötig ist.
Zwar dürfen Untersuchungshäftlinge, anders als Strafgefangene, im Gefängnis private Kleidung tragen. Allerdings kann die Anstalt Häftlingen, bei denen Selbstmordgefahr besteht, „Kleidungsstücke vorenthalten“. Sie bekommen Sachen von der JVA, die sich nicht in Streifen zerlegen und zu Stricken knüpfen lassen. Damit soll verhindert werden, dass sie sich wie Dschaber al-Bakr am Fenstergitter erhängen.
Untersuchungsgefangene haben laut Zecha „in der Regel Anspruch auf Einzelunterbringung“. Werde jemand allerdings nachts eingeliefert, wenn kein Zugangsgespräch stattfinden kann, lege man ihn für die erste Übernachtung „eher mit einem als zuverlässig geltenden“ Gefangenen zusammen, um die Suizidgefahr zu minimieren.
Grundsätzlich beobachtet man laut Zecha in der JVA Würzburg die Gefangenen sehr genau, um schnell auf mögliche Selbstmordabsichten reagieren zu können. Die Bediensteten seien sensibilisiert und würden hellhörig, wenn sich Gefangene zum Beispiel von Gemeinschaftsaktivitäten wie Hofgang oder Sportmöglichkeiten zurückziehen. Gefährdete Häftlinge werden laut Zecha in die psychiatrische Abteilung verlegt.
Auch nachts könne man auf Suizidversuche reagieren, sagt Zecha. Zwar sei von 22 bis 6 Uhr „Einschluss“. Aber es gebe Notruf-Einrichtungen auf den JVA-Abteilungen, Alarmknöpfe in allen Zellen und Streifen, die auf den Gängen unterwegs sind.