Stellt ein Land seine Bürger unter Generalverdacht – oder schließt es eine Lücke in seiner Sicherheitsarchitektur, wenn jede Telefon-, Handy- und Internetverbindung wochenlang gespeichert wird? Obwohl das Bundesverfassungsgericht vor fünf Jahren ein ähnliches Gesetz schon einmal gekippt hat, wagen Union und SPD einen zweiten Anlauf: Am Mittwoch hat das Kabinett die neue Vorratsdatenspeicherung auf den Weg gebracht.
Rund 1000 Telefongesellschaften und Internet-Provider wie die Telekom, Vodafone oder 1&1 müssen die Verbindungsdaten von Telefonaten und Computern zehn Wochen lang aufbewahren – das sind die Nummern bzw. die IP-Adressen der jeweiligen Anschlüsse sowie Zeitpunkt und Dauer der Verbindung. Die Standortdaten von Handy-Gesprächen sollen vier Wochen gespeichert werden. Auf Anordnung eines Richters können die Behörden die Daten nutzen, wenn sie schwere Straftaten wie terroristische Anschläge, Mord, Menschenhandel oder Kindesmissbrauch aufklären. Wer wann mit wem Kontakt hatte, ist demnach „für eine effektive Strafverfolgung von besonderer Bedeutung“.
Damals durften Verbindungsdaten deutlich länger ohne jeden Anlass gespeichert werden, nämlich bis zu sechs Monate. Außerdem monierten die Verfassungsrichter in ihrem Urteil, dass die Daten nicht gut genug vor unerlaubten Zugriffen geschützt waren. Nun werden die Unternehmen verpflichtet, die Verbindungsprotokolle ausschließlich auf Rechnern im Inland zu speichern und sie nach Ablauf der Speicherfrist sofort zu löschen – andernfalls droht ihnen ein Bußgeld. Daten von E-Mails und die aufgerufenen Internetseiten werden überhaupt nicht gespeichert, die Inhalte von Telefongesprächen, von Chats im Netz oder SMS-Nachrichten dürfen ohnehin nicht aufgezeichnet werden. Und: Auf die Daten bestimmter Berufsgruppen haben die Behörden generell keinen Zugriff. So können Ärzte, Seelsorger oder Anwälte ihre Berufsgeheimnisse wahren und Journalisten ihre Informanten schützen. Für sie alle ist Vertraulichkeit ein integraler Bestandteil ihrer Arbeit.
Für die Kritiker der Vorratsdatenspeicherung geht es um etwas sehr Grundsätzliches. Sie sehen in ihr eine schwere Verletzung ihrer Grundrechte. Wenn ein Mensch davon ausgehen müsse, immer überwacht zu werden, verstoße das gegen das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, warnt die Grünen-Abgeordnete und Juristin Renate Künast. Der frühere Datenschutzbeauftragte Peter Schaar sagt: „Eine anlasslose, alle Telefonkunden und Internetnutzer betreffende Vorratsdatenspeicherung halte ich für grundrechtlich nicht vertretbar.“ Über kurz oder lang wird deshalb auch das neue Gesetz wieder in Karlsruhe landen. Der frühere Innenminister Gerhart Baum (FDP) hat eine Klage bereits angekündigt.
Die sind ganz anderer Ansicht. „Es geht ja nicht darum, Eierdiebe zu fangen, sondern es geht darum, schwerste Kriminalität und Terrorismus aufzudecken“, sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Nach dem Karlsruher Urteil vor fünf Jahren habe Deutschland sich vor allem auf das Glück und auf Hinweise befreundeter Nachrichtendienste verlassen. In Frankreich dagegen seien die Politiker mutiger. Dort gibt es bereits seit 2006 eine Speicherpflicht von zwölf Monaten. Die tödlichen Anschläge auf die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt in Paris hat zwar auch sie nicht verhindert. Danach allerdings wussten die Ermittler binnen kürzester Zeit, wann die Attentäter mit wem in Kontakt standen. Für CDU-Vize Thomas Strobl ist die neue Vorratsdatenspeicherung gar „ein Quantensprung für die innere Sicherheit.“