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RENNES/PARIS
Warum starben Zyed und Bouna?
Opfer des ungelösten Problems der Banlieues: Die Jugendlichen Zyed Benna (links) und Bouna Traoré kamen im Jahr 2005 in einem Pariser Vorort ums Leben. Ihr Tod löste schwere Krawalle aus.
Foto: Olivier Laban-Mattei, afp | Opfer des ungelösten Problems der Banlieues: Die Jugendlichen Zyed Benna (links) und Bouna Traoré kamen im Jahr 2005 in einem Pariser Vorort ums Leben. Ihr Tod löste schwere Krawalle aus.
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:08 Uhr

„Wir haben zwei Personen lokalisiert. Sie laufen auf das EDF-Gelände. Man sollte die Ecke umstellen... Die werden da ja wieder herauskommen... Aber wenn sie auf das Gelände gehen, gebe ich nicht mehr viel auf ihre Haut.“ In der Polizeifunk-Aufnahme vom 27. Oktober 2005 spricht Sébastien G. An dem Tag verfolgten der Polizist und seine Kollegen insgesamt acht Jugendliche in Clichy-sous-Bois, einer berüchtigten Pariser Vorstadt („Banlieue“). Es sei ihm nicht in den Sinn gekommen, die beiden auf dem Gelände des Stromkonzerns EDF vor der Todesgefahr zu warnen, sagte Sébastien G. später aus.

Rund eine halbe Stunde nach dem Funkspruch traf ein Stromschlag mit 20 000 Volt den 17-jährigen Zyed Benna und den 15-jährigen Bouna Traoré, die sich dort in einem Trafo-Häuschen versteckt hatten. Ein dritter Jugendlicher, der 17-jährige Muhittin Altun, entkam und holte trotz seiner schweren Verbrennungen Hilfe – vergeblich. Später kam heraus, dass sich die Teenager, die gerade vom Fußballspielen kamen, nichts zuschulden hatten kommen lassen.

Schwere Krawalle als Folge

Noch am selben Abend brannten die ersten Autos in den Banlieues. Brutale Krawalle erschütterten in den folgenden drei Wochen Frankreich, fast 3000 Randalierer wurden festgenommen. Eine entfesselte, wütende Jugend lieferte sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Zum ersten Mal seit Ende des Algerienkrieges wurde in Frankreich der Notstand ausgerufen.

Hätte der brutale Tod von Bouna und Zyed, der die Unruhen auslöste, verhindert werden können? Seit Montag stehen zwei Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung vor einem Strafgericht in Rennes. Sébastien G. wird vorgeworfen, er habe nichts getan, um EDF oder die Jungen vor der „großen und unmittelbaren Gefahr“ zu warnen. Angeklagt ist außerdem die Polizistin Stéphanie K., die damals in der Funkzentrale saß, aber auf die Warnmeldungen des Kollegen nicht reagierte.

In einem Bericht der Generalinspektion IGS („Polizei der Polizei“) von 2006 heißt es, wenn EDF rechtzeitig informiert worden wäre, hätte der Konzern eine Viertelstunde vor dem Unfall eingreifen können. Die Polizisten hätten mit „erstaunlicher Nachlässigkeit“ gehandelt. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe von bis zu 75 000 Euro. Seit Jahren streitet die Justiz über das Zulassen des Prozesses, den die Staatsanwaltschaft lange verhindern wollte. Viele sehen dahinter politische Gründe, vor allem während der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy. Er war 2005 Innenminister und heizte das angespannte Klima mit seinen scharfen Worten über das „Gesindel“ in den Vorstädten, die er „mit dem Kärcher reinigen“ wolle, noch an. Bis heute hat sich die Situation in den überwiegend von Einwanderern bewohnten Banlieues wenig verbessert, wo noch immer hohe Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung herrschen.

„Soziale Apartheid in Clichy“

Jean-Perre Mignard, Anwalt der Nebenkläger, warnt Frankreich vor einem „amerikanischen Szenario“: „Es hätte dieses Drama nicht gegeben, wenn es keine soziale Apartheid in Clichy gäbe.“ Apartheid, dieses Wort benutzte nach den islamistischen Anschlägen in Paris Anfang Januar auch Premierminister Manuel Valls, um die Probleme in den vernachlässigten Vorstädten anzuklagen. Doch kann er sie beseitigen?

Viele Bewohner in Clichy-sous-Bois erhoffen sich nun zumindest einen fairen Prozess. Auch die älteren Brüder von Zyed und Bouna, die aus Einwandererfamilien aus Mauretanien und Tunesien stammen, verfolgen ihn. Sie wollen, sagen sie, dass diese nicht als Kriminelle dargestellt werden. Sondern als Opfer – nicht nur nachlässiger Polizisten, sondern auch des ungelösten Problems der Banlieues.

 
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