In der Medizin bietet die sanftere Therapie manchmal höhere Heilungschancen als die Radikalkur. Das könnte auch für den Eingriff gelten, den der Bundestag an diesem Donnerstag vornimmt – ein Eingriff in die persönlichste Sphäre aller Bürger. Es geht dabei um Fragen von Leben und Tod. In Deutschland gibt es zu wenig Organspenden, viele Schwerkranke sterben, weil sie nicht rechtzeitig eine neue Niere, Leber, Bauchspeicheldrüse oder ein neues Herz bekommen. Ein Zustand, der unerträglich ist.
Doch wie das krankende System der Organspenden kuriert werden soll, ist heftig umstritten. Quer durch die Bevölkerung und auch durch das Parlament geht in der Debatte ein Riss: Sollen wirklich alle Bürger, die dem nicht ausdrücklich widersprechen, automatisch zur Organspendern werden? So plant es der ehrgeizige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU. Vielen Abgeordneten geht das zu weit. Denn damit würde das Prinzip verletzt, dass wichtige Entscheidungen in Form einer bewussten, informierten Zustimmung erfolgen sollen. Für die Volksvertreter ist die Neuregelung des Transplantationsgesetzes eine Gewissensentscheidung, die sie konsequenterweise ohne die üblichen Fraktionszwänge treffen sollen.
Zur Wahl bei der Operation Organspende stehen, neben einem in der Tendenz eher organspendeskeptischen und wohl chancenlosen AfD-Antrag eine radikale und eine sanftere Variante. Der weitreichendere Vorschlag von Spahn würde das bestehende System komplett auf den Kopf stellen.
Mehrheit der Bürger bekennt sich grundsätzlich zur Organspende
Bisher muss die Bereitschaft zur Organspende auf einem Spenderausweis dokumentiert sein. Obwohl sich eine Mehrheit der Bevölkerung grundsätzlich zur Organspende bekennt, haben in der Praxis weniger als 40 Prozent ein solches Dokument. Spahn will diesen Zustand beenden – mit der „doppelten Widerspruchslösung“. Jeder Bürger ab 16 Jahren würde damit zum potenziellen Organspender – es sei denn, er dokumentiert seine Ablehnung, in einem zentralen Register oder gegenüber Angehörigen. Eng an Spahns Seite kämpft SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach für die Widerspruchslösung, für die sich auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ausspricht. Und offenbar alle Mitglieder ihres Kabinetts, mit Ausnahme von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD).
Auch die Liste der Gegner des Spahn-Plans ist eindrucksvoll und ungewöhnlich bunt. Darauf finden sich Annalena Baerbock und Katja Kipping, die Chefinnen von Grünen und Linken, der Arzt und CSU-Abgeordnete Stephan Pilsinger sowie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. Sie glauben, dass ein Schweigen gerade in einer so existenziellen Frage nicht mit Zustimmung gleichgesetzt werden darf. Bedenken haben auch die beiden großen Kirchen und die Spitze des Deutschen Ethikrats. Die Einwände sind berechtigt. Würde jeder, der das nicht aktiv und ausdrücklich ausschließt, bei einem nicht mehr behebbaren Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen zum Spender, wäre das so etwas wie eine Organabgabepflicht. Wenn aber ein bestimmtes Verhalten als Normalfall vorausgesetzt wird, verliert es den Charakter der Spende.
Dem Bürger ist zuzumuten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen
Unbestritten ist, dass jedem Bürger zugemutet werden darf, sich mit der Frage, wie er es mit der Organspende hält, auseinanderzusetzen. So wie sich ja auch Bundestagsabgeordnete bei einer Abstimmung enthalten können, sollte es in einer derart heiklen Frage für die Bürger das Recht geben, sich gar nicht zu entscheiden. Niemand darf den Verfechtern einer Lösung, die auf eindeutige Zustimmung setzt, unterstellen, sie wollten ein Mehr an Organspenden verhindern. Das Gegenteil ist der Fall.
Natürlich muss noch mehr geschehen, um die Organspendezahlen zu erhöhen. Mehr Zwang aber könnte eher noch zu einem Anwachsen der Vorbehalte führen – die viele Menschen nicht zuletzt durch einige Organspendeskandale in der Vergangenheit hegen. Beide Anträge fordern richtigerweise ein zentrales Register für Organspender. Fragt sich nur, welcher Weg für mehr positive Einträge sorgt: Spahns Radikallösung oder ein Mechanismus, in dem die Menschen nachdrücklicher als bisher und auch öfter gefragt würden, ob sie Organspender sein wollen. Gute, nachhaltige Aufklärung vorausgesetzt, könnte diese sanftere Medizin am Ende die wirksamere sein.