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„Warum ich?“
Tag der seltenen Erkrankungen: Mukoviszidose ist nicht heilbar. Die 16-jährige Linda gehört zu den rund 8000 Menschen, die bundesweit von der seltenen Stoffwechselerkrankung betroffen sind.
Seltene Erkrankungen: Etwa 80 Prozent sind genetisch bedingt, deshalb machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar.
Foto: Illustration: diekleinert.de | Seltene Erkrankungen: Etwa 80 Prozent sind genetisch bedingt, deshalb machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar.
Von Christine Jeske und Thomas Brandstetter
 |  aktualisiert: 24.02.2012 20:18 Uhr

Muko was? Ach, Mukoviszidose. Das ist doch die Krankheit, an der man mit 18 stirbt.“ Für Linda war es ein Schock, als sie diesen Satz vor zwei Jahren hörte. Die damals 14-Jährige unterstützte ihre Mutter Rosalie Keller am Informationsstand der Mukoviszidose-Regionalgruppe Unterfranken. Linda leidet seit ihrer Geburt an dieser Stoffwechselerkrankung. Sie weiß, dass sie nicht so alt werden kann wie gesunde Menschen. Doch die unsensible Äußerung des Passanten in der Würzburger Innenstadt konfrontierte sie allzu brutal mit ihrem Schicksal. An dieser „schlechten Erfahrung“, so Rosalie Keller, hatte Linda einige Zeit zu knabbern.

„Linda ist heute 16 Jahre alt und voller Zukunftspläne. Sie will Lehrerin werden, Französisch und Mathematik unterrichten“, erzählt ihre Mutter, die sich seit vielen Jahren in der Selbsthilfegruppe engagiert und sie seit 2003 leitet. Rosalie Keller möchte andere Eltern, die mit der Diagnose Mukoviszidose konfrontiert werden, ermutigen und sie zum Austausch in der Gruppe einladen, Tipps geben für den Alltag mit einem schwer kranken Kind. Sie weiß nur zu genau, was es bedeutet. Die Krankheit bestimmt jeden Tag aufs Neue, oft auch die Nacht. Denn Linda kann wegen des zähen Schleims in ihrem Körper nicht immer durchschlafen.

„Die Mukoviszidose ist eine schwere, vererbte Erkrankung, die zu einer meist deutlich reduzierten Lebenserwartung führt. Durch einen Defekt der Chloridkanäle in den Zellen der Schleimhäute ist der Wassergehalt der Körpersekrete zu niedrig, die Sekrete dicken ein und verstopfen Transportwege von Sekreten in vielen Organen, vor allem den Atemwegen. In der Lunge kommt es dann zur chronischen Besiedlung mit Bakterien“, erklärt Professor Helge Hebestreit, Leitender Oberarzt an der Kinderklinik des Universitätsklinikums Würzburg. In der medizinischen Betreuung stehe vor allem die fortschreitende Lungenerkrankung mit immer wieder auftretenden Lungenentzündungen im Vordergrund. Die Mukoviszidose (aus dem Lateinischen „mucus“ = Schleim und „viscidus“ = zäh, klebrig), die meist im Kindesalter diagnostiziert wird und auch heute noch nicht heilbar ist, ist zwar eine relativ seltene Krankheit, unter „den selteneren aber die häufigste“, so Professor Hebestreit.

Einer von 25 hierzulande gilt als Überträger des kranken Gens, also immerhin vier Prozent der Bevölkerung. Mukoviszidose betrifft viele Organe, klassischerweise die Lunge beziehungsweise die Atemwege und den Verdauungstrakt. Vor 50 Jahren noch lag die Lebenserwartung bei unter einem Jahr – heute im Mittel bei 41 Jahren, „und sie steigt jedes Jahr um fast ein Jahr, weil die Therapien immer besser werden“, so Professor Hebestreit.

Bundesweit sind 8000 Menschen davon betroffen, „in Unterfranken ungefähr 80“, sagt Rosalie Keller. Der älteste Mukoviszidose-Patient in Deutschland ist über 70, in Unterfranken fast 50 Jahre alt. Lindas Mutter hofft natürlich sehr, dass auch ihre Tochter mindestens dieses Alter erreichen wird. Deshalb sorgt sie tagein tagaus dafür, dass Linda „bei der Stange bleibt“. Das heißt, dafür zu sorgen, dass der Krankheitsverlauf nicht schlechter wird. Dafür ist mehrfach täglich eine intensive, zeitaufwendige Therapie nötig, sagt Professor Hebestreit, mit zahlreichen Medikamenten (bis zu 30 Tabletten täglich!), Atemgymnastik (von einer halben Stunde bis zu vier Stunden am Tag, in fortgeschrittenem Stadium auch mit Sauerstoffversorgung rund um die Uhr), Inhalationen (um den Schleim flüssiger zu machen und die Bakterien zu bekämpfen), viel Sport und fett-, salz- und kalorienreicher Ernährung, also genau die Kost, die sonst tabu sein sollte.

„Ein bei Mukoviszidose betroffenes Organ ist auch die Bauchspeicheldrüse“, erklärt Professor Hebestreit weiter, „die sorgt bei Gesunden unter anderem dafür, dass Fett vom Körper aufgenommen werden kann, bei an Mukoviszidose Erkrankten funktioniert dies nur eingeschränkt oder gar nicht mehr.“ Deshalb sei es oft ein Kampf, dass Betroffene auch genügend essen. Erste Anzeichen, dass ein Kind an Mukoviszidose erkrankt sein könnte, ist „eine Gedeihschwäche und auffälliges, häufiges Husten“, so Professor Hebestreit. Die Kinder sind oft schlapp, müde und wachsen schlecht. Symptome bei Säuglingen und Kleinkindern sind zudem ein fettiger, übel riechender Stuhl, Blähungen und ein dicker Bauch.

Bei Linda dauerte es fünf Monate, bis die Diagnose klar war. Nach der Geburt hatte sie dünnen, grünen Stuhlgang – bis zu 20 Mal am Tag. Das sei Kindspech, bekam Rosalie Keller als Antwort auf ihre besorgten Fragen. Linda schrie ständig – vor Hunger. Nur wusste das ihre Mutter nicht. Letztlich brachte ein altes Mittel Gewissheit: der Schweißtest. Ein erhöhter Salzgehalt im Schweiß deutet auf Mukoviszidose hin. Bereits im Mittelalter testeten Hebammen mit einem Kuss auf die Stirn, ob Neugeborene nach Salz schmeckten. Wenn ja, dann war das damals ein Todesurteil. Die Krankheit hieß zwar noch nicht Mukoviszidose, aber die Hebamme behielt häufig recht mit ihrer Diagnose.

Anfangs war Rosalie Keller völlig überfordert mit der Situation, dass ihre Tochter an einer unheilbaren Krankheit leidet, erzählt sie. Erst nach und nach lernte sie, damit umzugehen. „Ohne Disziplin geht es nicht und ohne spezielle Ernährung sowie Hygienemaßnahmen auch nicht.“ Bereits im Kindergarten benötigte Linda beispielsweise eine eigene Toilette, um nicht mit den für Mukoviszidose-Patienten gefährlichen Pseudomonaskeim in Berührung zu kommen. Der „Pfützenkeim“ lauert überall in der Umwelt, im Boden, auf Pflanzen und Tieren, in stehenden Gewässern. Deshalb ist die Angst bei Eltern groß, dass sich ihr krankes Kind infizieren könnte.

Als belastend empfindet es Rosalie Keller seit einigen Wochen, dass sie Linda ständig drängen muss, damit sie ihre Therapie nicht vernachlässigt. „Das ist vor allem jetzt in der Pubertät schwierig.“ Ständig würde Linda zurzeit fragen: „Warum ich, warum nicht die anderen?“ Oder: „Ich hab keinen Bock. Mach doch du das.“ Trotz der Versuche, aus dem Kreislauf der täglichen Maßnahmen auszubrechen, hat Rosalie Keller Vertrauen zu ihrer Tochter, die offen mit ihrer Erkrankung umgeht und darüber in der Schule auch Referate hält. Vor kurzem durfte Linda erstmals alleine mit auf Klassenfahrt – und es ging gut. „Das war eine große Überwindung für mich“, sagt ihre Mutter, „meist fahren die Eltern mit“. Aber Linda wollte das nicht.

Nachvollziehbar ist auch, dass Linda ohne ihre Eltern Freunde treffen möchte. „Ich bin stolz auf sie, dass sie dabei alles beachtet“, meint ihre Mutter. Dazu gehört zum Beispiel, nicht aus dem Glas von anderen trinken. Und wie sieht es mit Umarmungen, Zärtlichkeiten aus? Rosalie Keller atmet tief durch. „Der erste Freund, das wird wohl schwierig werden.“ Mit 16 Jahren möchte man sich unbeschwert verlieben und nicht fragen: „Mag mich jemand, wenn er hört, dass ich Mukoviszidose habe?“ Oder: „Darf ich ihn überhaupt küssen?“ Auch das sind Fragen, so Rosalie Keller, die ihre Tochter gerade bewegen.

Wenn die Krankheit zu sehr an der Seele nagt, gehen Mutter wie Tochter in die psychosoziale Beratungsstelle. „Ich bin froh, dass wir hin und wieder mit der Psychologin sprechen können.“ Auch Lindas Vater und ihr älterer gesunder Bruder waren dort. „Geschwisterkinder kämpfen genauso mit der Krankheit wie Betroffene“, erlebt Rosalie Keller immer wieder. „Sie fühlen sich eigentlich immer vernachlässigt, weil das Mukoviszidose-Kind immer im Vordergrund steht.“

Wie der Alltag dennoch gelingen kann, das erfahren Eltern in der Selbsthilfegruppe. Die Resonanz könnte jedoch größer sein. Rosalie Keller weiß: „Es gehört ein wenig Überwindung dazu, sich bei der Gruppe zu melden.“ Von denjenigen, die diesen Schritt jedoch unternommen haben, hört sie oft: „Warum sind wir nicht früher gekommen?“

Mukoviszidose-Ambulanz und Selbsthilfegruppe

Seit 1981 werden Mukoviszidose-Patienten an der Kinderklinik des Würzburger Universitätsklinikums in einer speziellen Sprechstunde betreut. Die Behandlung in der Christiane-Herzog-Ambulanz, die Professor Helge Hebestreit leitet und die als Mukoviszidose-Zentrum anerkannt ist, erfolgt durch ein spezialisiertes Team aus Ärzten, Kinderkrankenschwestern, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern sowie Sozialpädagogen und einer Sporttherapeutin.

Die psychosoziale Beratungsstelle wurde vor sieben Jahren in Zusammenarbeit von Mukoviszidose-Ambulanz und Mukoviszidose-Selbsthilfegruppe Unterfranken eingerichtet. Sie ist einmalig in Bayern, wird vom Land Bayern, Bezirk Unterfranken und aus Spendengeldern finanziert und ist für Mukoviszidose-Patienten und deren Angehörige kostenfrei.

Mehr Informationen gibt es bei Rosalie Keller, Leiterin der Mukoviszidose-Selbsthilfegruppe Unterfranken unter Tel. (0 93 64) 22 53. Ambulanz und Gruppe sind auf Spenden angewiesen: Sparkasse Mainfranken, BLZ 790 50 000, Kto 43 144 112.

Rosalie Keller und Tochter Linda.
Foto: Keller | Rosalie Keller und Tochter Linda.
 
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