Was absurd anmutet, wird Wirklichkeit: Wenn die Hessen am Sonntag einen neuen Landtag wählen, stimmen sie auch über die Abschaffung der Todesstrafe ab. Zwar geht es letztlich weniger um die Todesstrafe als um eine Verfassungsänderung im Allgemeinen. Doch allein die Tatsache, dass in der bisherigen Version die Todesstrafe noch gültig war, dürfte viele verwundern. Tatsächlich wird sie gegenwärtig nur deshalb nicht vollstreckt, weil das stärkere Bundesrecht den strittigen Artikel außer Kraft setzt.
Ist die Abschaffung bloße Formsache? Nicht, wenn es nach dem Erlanger Wissenschaftler Franz Streng geht. Der Jura-Professor hat Studenten über ihre Haltung zur Todesstrafe befragt. Und siehe da: Sage und schreibe jeder dritte sprach sich für ihre Wiedereinführung aus. Helmut Ortner, Autor des jüngst erschienenen Buches „Wenn der Staat tötet – Eine Geschichte der Todesstrafe“ (Theiss Verlag), kann sich darüber nicht wundern. Dass sich bislang keine hessische Regierung getraut hat, den längst überflüssigen Artikel zur Disposition zu stellen, liegt ihm zufolge in der Furcht vor einem Debakel begründet: Die Wähler, so eine offenbar begründete Sorge, könnten am Ende für seine Beibehaltung votieren und damit ein fatales Signal in den Bund setzen. Nicht umsonst ist die Frage der Todesstrafe diesmal eingebettet in eine Reform der Verfassung insgesamt – neben der Streichung des Artikels geht es um 14 weitere Änderungen.
Der Vollzug der Todesstrafe ist in Europa über viele Jahrhunderte hinweg ein ganz gewöhnlicher Vorgang gewesen. Bestraft wurden Mörder, Vergewaltiger und Ketzer. Die Methoden ihrer Hinrichtung waren oft grausam, Publikum dabei erwünscht: Schließlich sollten sich Übeltäter beim Anblick dieses Spektakels auf Umkehr und Buße besinnen. Dass unter den Anwesenden jemand daran moralischen Anstoß nehmen könnte, auf diese Idee wäre niemand gekommen.
Und als man endlich doch daran Anstoß nahm, so galt die Kritik nicht etwa der Todesstrafe selbst. Es ging vielmehr um die Art und Weise, in der man die Verurteilten ins Jenseits beförderte. Wie Helmut Ortner beschreibt, manifestiert sich der Ursprung unseres heutigen Unrechtsempfindens ausgerechnet in der Erfindung der schrecklichsten aller Hinrichtungsmaschinen: Die Guillotine war keineswegs das Produkt einer menschenverachtenden Gesinnung. Ihr Namensgeber, der französische Arzt Joseph-Ignace Guillotin, hatte im Gegenteil ihre Entwicklung aus zutiefst humanistischen Gründen in Auftrag gegeben.
Hinrichtungen waren zuvor mit oft qualvollen Todeskämpfen verbunden. Die Guillotine sollte den Verurteilten stattdessen einen plötzlichen Tod garantieren. „Nichts anderes als ein Gefühl erfrischender Kühle“ versprach Guillotin all jenen, die künftig unter dem Fallbeil liegen würden. Seine Hinrichtungsmaschine: Sie war als ein Symbol der Nächstenliebe gedacht. Tatsächlich sollte sie während der Französischen Revolution zu einem Symbol des Schreckens werden. Gerade wegen ihrer geräuschlosen und zweckmäßigen Mechanik lud sie nämlich zum regen Gebrauch ein. Mit der Guillotine war die Industrialisierung auch im Henkersgewerbe angekommen.
So bequem das Aussprechen und Vollstrecken von Todesurteilen durch die neue Maschine auch war: Die schiere Masse an Toten löste bald ein neuartiges Unbehagen aus. Mit dem Unbehagen gegenüber der Automatisierung und Mechanisierung von zuvor langwierigen Abläufen wuchs die Skepsis gegenüber politischen und juristischen Institutionen. Über Jahrhunderte hinweg hatte man sie weitgehend unkritisch als rechtmäßige Vertreter einer göttlichen Gerichtsbarkeit auf Erden akzeptiert. Doch nun hatte den König selbst seine göttliche Sendung nicht vor dem Sturz und der Guillotine bewahren können. Sollten wirklich mehr als 20 000 während der Revolution hingerichtete Menschen den Tod verdient haben?
In Deutschland fürchteten die Behörden eine mehr aufwiegelnde denn abschreckende Wirkung durch Hinrichtungen vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848. Die Vollstreckung von Todesurteilen wurde deshalb aus dem öffentlichen Raum hinter die Gefängnismauern verbannt. Eine vorbereitete offizielle Erklärung sollte dem Volk die einzig gültige Interpretation dieses Vorgangs vermitteln.
Heute sind jene Gesellschaften, die im 19. Jahrhundert den Prozess von Industrialisierung und Aufklärung vollzogen haben, von der Todesstrafe befreit. Eine Ausnahme stellen lediglich die USA dar: Kaum zufällig finden die meisten Vollstreckungen in Staaten mit stark religiöser Prägung statt. Doch auch hier stellt die Todesstrafe das Rechtssystem zunehmend vor Probleme.
In Nachfolge der Guillotine sind geradezu absurd anmutende Apparate entwickelt worden: Zwei in einem externen Raum sitzende Bedienstete lösen einen Mechanismus aus, über den Gift in die Adern des Verurteilten geleitet wird. Nur einer der beiden Hebel funktioniert tatsächlich, die Mitarbeiter sollen sich mit dem Gedanken trösten können, dass der jeweils andere für den Tod verantwortlich war. Es ist der hilflose Versuch eines Tötens, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.