Er war 16 Jahre alt und stolz, „ein deutscher Junge“ zu sein. Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, läuteten in seinem am Rhein gelegenen Heimatort in Nordbaden die Kirchenglocken zum Gottesdienst. Viele Jahre später erinnert er sich noch genau:
„Es wurde Gott gedankt, dass endlich der Führer die Macht in Deutschland übernimmt und dass sich eine Wende abzeichnen sollte. Das war für uns Junge nicht nur beeindruckend. Das war das Erlebnis des Lebens. Es gab nichts anderes . . . Wir haben natürlich in die Figur des Führers alles das hineingelegt, was junge Menschen an Idealen, an Hingabe, möchte ich fast sagen, erleben konnten.“
Wilhelm Plessner – der Name ist ein Pseudonym – erzählte in mehreren Interviews „forsch und fesselnd“ seine Erinnerungen, sagt Dr. Stephan Marks. Der Sozialwissenschaftler aus Freiburg startete Ende der 1990er Jahre einen Aufruf. Männer und Frauen sollten sich melden und ihm und seinem interdisziplinären Team ihre Geschichte erzählen. „Wir wollten keine hochrangigen oder prominenten Nazis, sondern ganz normale Anhänger und Mitläufer – Menschen, die den Nationalsozialismus bejaht und aktiv mitgetragen hatten“, so Marks.
Plessner wollte reden. Nicht nur er. Leonore Held, eine der Teilnehmerinnen, begrüßte ihren Interviewer sogar in heftigem Tonfall:
„Na, das wurde aber auch Zeit! 50 Jahre durften wir ja nicht reden! Es durften ja nur die Opfer reden!“
Die Interviews waren Grundlage des Forschungsprojekts „Geschichte und Erinnerung“. Bei der Auswertung der Gespräche standen laut Marks mehrere Fragen im Mittelpunkt, etwa: Was bewegte die Interviewten damals, Hitler und den Nationalsozialismus zu bejahen und aktiv mitzutragen? Wie ist diese Erfahrung heute in ihnen kognitiv und emotional gegenwärtig? – kurz formuliert: Warum folgten sie Hitler?
„Solange ich zurückdenken kann, hat mich die Frage beschäftigt, wie der Nationalsozialismus möglich war“, erläutert Marks seine Motivation. Geboren 1951, zählt er zur frühen Nachkriegsgeneration. „Ich habe mich in meinem Studium mit den ganzen Erklärungsansätzen und Theorien über den Nationalsozialismus auseinandergesetzt, aber im Grunde genommen verstanden habe ich es dennoch nicht.
“ Deshalb wählte er eigene Zugänge: Stephan Marks forschte nicht mehr über Hitler allein, sondern über die Anhänger. „Das hat bislang kaum einer getan.“ Und er legte den Fokus weniger auf geschichtliche Zahlen, Daten und Fakten. Vielmehr interessierte ihn die Psychologie des Nationalsozialismus, die emotionale Verstricktheit der Nazi-Anhänger, ihr „spezifischer Bewusstseinszustand“ (ein Begriff des Soziologen und Philosophen Theodor Adorno). Auch was in den Interviews zwischen den Zeilen steht und wie etwas gesagt wurde und was dies bei den Interviewern ausgelöst hat, war Teil der Untersuchung.
Die Machtmechanismen der Nationalsozialisten beschreibt Stephan Marks unter anderen mit den Begriffen „magisches Bewusstsein“, „hypnotische Trance“, „Scham und Schamabwehr“ beziehungsweise dem Wunsch nach einem Führer, der mit charismatischen Fähigkeiten belegt wurde, der Bündelung der Aufmerksamkeit auf die Führerfigur, die Erfüllung des Wunsches nach Gesehenwerden und die Instrumentalisierung der Traumata durch den Ersten Weltkrieg. So schilderte Wilhelm Plessner, der seine Kindheit vor 1933 als „arm“ und das „Dritte Reich“ als eine „Befreiung“ empfand, seine Gefühle am Reichsparteitag 1935 in Nürnberg:
„Es war ein Aufschrei, als ob ein Messias, ein Erlöser auf die Welt gekommen wäre.“
Genau diese emotionale, verstandesmäßig nicht nachvollziehbare Begeisterung hätten die Nazis gewollt, sagt Marks, dazu die Verehrung einer allmächtig erscheinenden, sich in höheren Sphären befindlichen religiösen Figur. Die Faszination gehört laut Marks zur „magischen Welt“. Von etwas fasziniert oder überzeugt sein, seien psychologisch zwei völlig unterschiedliche Dinge. Dies sei auch in den Gesprächen zum Ausdruck gekommen – in den Sätzen: „Wir haben geglaubt“ statt „Wir haben gewusst“, so Stephan Marks. Faszinierbare Menschen seien leicht verführbar.
„Das NS-Programm bestand darin, die Aufmerksamkeit der Menschen auf den ,Führer‘ und das ,Dritte Reich‘ zu fokussieren – bis es, in Herrn Plessners Worten, ,nichts anderes‘ mehr gab“, führt Marks weiter aus. Diese Einengung des Blickfelds habe bei den Anhängern bewirkt, dass Kritikpunkte oder die Verbrechen der Nazis aus dem Bewusstseinsfeld gerieten: etwa die Deportation der jüdischen Bevölkerung. Dazu Frau Bogner:
„,Ach ja‘, sag ich, ,die fahren jetzt fort mit dem Judenstern‘, und da geh ich wieder weg. Sie hatten wohl jeder ein Köfferchen bei sich, hat mich eigentlich gar nicht interessiert, also, die Juden.“
Bei den Juden wurde weggeschaut, bei Hitler genau hingeschaut. Wilhelm Plessner schilderte Szenen, in denen er Hitler begegnet ist. In ihnen wird ein weiterer Aspekt der fokussierten Verehrung für Hitler deutlich:
„Wir sind als Buben und als Nazi-Jugend mit offenen Augen, wirklich mit offenen Augen durch die Welt gegangen. Wir Jungvolk- und HJ-Führer standen Spalier und da ging er an uns vorbei und er guckt jedem in die Augen.“
Auch in anderen Interviews kam dieses „unvergessliche Erlebnis“, dass Hitler jedem direkt und intensiv in die Augen geschaut hätte, zum Ausdruck – obwohl dies ja, etwa auf den Massenveranstaltungen in Nürnberg, objektiv kaum möglich war. Diese Sehnsucht nach Blickkontakt, die sich bei den Nazi-Anhängern in eine narzisstische Abhängigkeit gesteigert habe, ist nach Angaben des Sozialwissenschaftlers ein elementares Bedürfnis. „Wenn Neugeborene von ihren Eltern nicht angelächelt werden, stürzen sie in einen Abgrund.
Durch den liebevollen Blick aber wird Freude ausgelöst, das führt zur Ausschüttung wichtiger Hormone, die das Gehirnwachstum fördern.“ Davon war im Standardwerk zur Säuglingspflege in der NS-Zeit nicht die Rede. 1934 erschien das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der Ärztin Johanna Haarer. „Es hat Generationen von Müttern geschult und wurde in Westdeutschland, leicht verändert, bis 1987 verlegt“, so Marks. NSDAP-Mitglied Haarer plädierte dafür, das der Säugling getrennt von der Mutter bleibt und nur zum Stillen zu ihr gebracht werden soll. Diese Auffassung sei bereits vor den Nationalsozialisten verbreitet gewesen, sagt Marks. „Das bedeutete für das Kind einen langen Kampf um Anerkennung, einen großen Hunger nach Gesehenwerden. Und diesen Hunger hat Hitler gestillt.“
Marks erwähnt in diesem Zusammenhang den britischen Historiker Ian Kershaw. Dieser schildere in seinem Werk „Das Ende“ einen speziellen „Augenblick“: Im Februar 1945 treffen sich mehrere Gauleiter, sie wollen eigentlich aufgeben. Als Hitler zu ihnen kommt und jedem in die Augen schaut, sind alle wie verwandelt. Eine Erklärung für dieses Phänomen liefert Kershaw laut Marks nicht. In einem Interview habe er allerdings gesagt, dass dies nur Psychologen beantworten könnten. „Dies zeigt, dass der Nationalsozialismus fächerübergreifend untersucht werden müsste. Wir haben diesbezüglich noch immer eine strikte Trennung“, so Marks. Historiker auf der einen Seite, Psychologen oder Soziologen auf der anderen. Marks' Forschungsergebnisse seien nicht von allen Historikern ernst genommen worden, sagt er. Dazu gehöre auch der Aspekt „Scham und Schamabwehr“ als Erklärung dafür, dass so viele Menschen Hitler folgten.
„Der psychische Mechanismus von Scham und Schamabwehr wird in Forschungen zum Nationalsozialismus aber viel zu wenig berücksichtigt“, sagt Marks. Der verlorene Erste Weltkrieg, die bedingungslose Kapitulation und der „Schand“-Vertrag von Versailles, die immensen Schulden, Armut, „Schwäche“ der Weimarer Republik – all diese Demütigungen führten nach einer These des Freiburger Wissenschaftlers bei vielen Deutschen zu einer tiefen Scham. „Und dann kam Hitler und hat die Schamgefühle eingesammelt und Schamabwehr angeboten“ – mit seinen Reden von einer „Herrenrasse“, seinen Versprechungen, die „Schmach von Versailles“ zu tilgen, durch seine „größenfantastischen“ Ansprüche auf Weltherrschaft. Dazu Wilhelm Plessner:
„Wir waren die Parias unter den Völkern, wir wussten, dass durch das Versailler Diktat wir vieles vieles vieles Böse erleben mussten . . . Man wusste, Deutschland, das Herz in Europa, musste wieder schlagen. Und das führte auch dazu, dass auch ohne Hitler Bestrebungen im Gang waren, Deutschland wieder zu einem wertvollen Staat in Europa zu machen. Aber das Wachsen des Dritten Reiches und die Propaganda der Nationalsozialisten haben bewirkt, dass es rabiater und schneller gehen sollte.
Man hat nicht mehr darum gebeten, jetzt verlangte man, dass Deutschland eine Größe werden sollte. Und Hitler war die Inkarnation dieses Gedankens.“
Auch die „Verachtung gegenüber jüdischen und nicht konformen Mitbürgern“ gehörte zur Schamabwehr. „Sie wurden entwürdigt, zu Objekten gemacht, vernichtet“ – und damit eigene Scham entsorgt. Marks beschreibt Scham als ein „unbequemes, schmerzhaftes Gefühl“. Steigert es sich ins Traumatische, dann geht das über Schuldgefühle weit hinaus. „Scham betrifft dann die ganze Person. Sie schämt sich nicht dafür, dass sie einen Fehler gemacht hat, sie denkt: ,Ich bin ein Fehler.‘“ Viele Kulturen guckten sich dann eine Minderheit aus, die die Scham, die zu viel ist, als Sündenbock verkörperten. Dies sei nicht nur im Nationalsozialismus so gewesen. Veteranen des Ersten Weltkriegs hätten es erlebt, auch US-Soldaten, die in Vietnam waren. „Als sie in ihr jeweiliges Umfeld zurückkehrten, war die Stimmung dort völlig gekippt – von Begeisterung zu Verachtung. Sie wurden ausgegrenzt.“ Diese traumatische Scham habe vielfach zu Suiziden geführt.
Das sei bei Wehrmachtsoldaten und Nazi-Anhängern nach 1945 nicht der Fall gewesen. Das Thema Nationalsozialismus war tabu. „Die deutsche Nachkriegsgesellschaft reagierte mit Schweigen.“ Dies habe Schutz geboten, aber die erneute Scham nicht in Luft aufgelöst. „Sie ist in unsere Gesellschaft eingesickert und vergiftet unsere zwischenmenschlichen Beziehungen latent – bis heute.“ Für Marks ist Scham „eines der Themen unserer Zeit“. Viele merkten gar nicht, dass sie andere in Gesprächen beschämen, demütigen, mobben. „Das Wissen über und ein guter Umgang mit Scham können dazu beitragen, dass Beziehungen menschenwürdiger werden. Dies kann verhindern, dass Menschen ihre eigenen Schamgefühle loszuwerden suchen, indem andere entwürdigt werden.“
Forschungsprojekt „Geschichte und Erinnerung“
Grundlage des Buches „Warum folgten sie Hitler“ (Patmos Verlag, 19,90 Euro) sind laut Autor Stephan Marks die Auswertungen von Interviews mit 43 Männern und Frauen, die den Nationalsozialismus in Organisationen wie Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel oder als Parteimitglieder aktiv mitgetragen hatten. Die Gespräche wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Geschichte und Erinnerung“ zwischen 1998 und 2001 geführt.
Stephan Marks studierte Politikwissenschaft, Psychologie sowie Neue Geschichte und promovierte in Sozialwissenschaften. Er bildet seit vielen Jahren Menschen, die mit Menschen arbeiten (Pflegekräfte, Lehrer, Erzieherinnen, Psychotherapeuten, Mediziner, Sozialarbeiter, Mitarbeiter im Strafvollzug, Seelsorger und viele andere) über Scham und Menschenwürde fort. Internet: www.menschenwuerde-scham.de