Wenn es nach der türkischen Regierung geht, gibt es keine Zweifel: Der Putschversuch des vergangenen Sommers wurde auf Befehl des Predigers Fethullah Gülen ausgeführt, und der Plan scheiterte am beherzten Widerstand von Präsident Recep Tayyip Erdogan und vieler Normalbürger auf den Straßen des Landes. Fast ein Jahr nach der Putschnacht vom 15. Juli kommen aber neue Fragen auf: Aussagen eines Informanten des Geheimdienstes und Stellungnahmen mutmaßlicher Putschisten vor Gericht legen nahe, dass Ankara frühzeitig über die Putschpläne informiert war, den Umsturzversuch aber nicht verhinderte. Westliche Geheimdienste denken ähnlich.
Der Tod von 250 Menschen hätte verhindert werden können
Der ehemalige Brigadegeneral Erhan Caha jedenfalls ist sicher, dass in der Putschnacht nichts ohne Wissen der Regierung geschah. Der Umsturzversuch sei „laut den Plänen, Informationen und unter der Kontrolle des Generalstabschefs, der Kommandeure der Teilstreitkräfte und des Geheimdienstchefs abgelaufen“, sagte Caha vor einigen Tagen. Wenn die Offiziere der Armee rechtzeitig gewarnt worden wären, hätten das Blutvergießen und der Tod von rund 250 Menschen verhindert werden können.
Caha steht als mutmaßlicher Putschbeteiligter vor Gericht, wo ihm lebenslange Haft droht; möglicherweise will er sich mit seinen Aussagen nur selbst schützen. Doch Caha steht mit seinen Zweifeln nicht allein da. In türkischen Medienberichten wurde ein weiterer vor Gericht stehender Offizier mit der Frage zitiert, warum die Behörden keine ballistische Untersuchung der angeblich von den Putschisten verschossenen Munition vorgelegt haben. Laut dieser Aussage waren zwei Drittel der in der Putschnacht aufgebotenen Soldaten der Aufständischen junge Wehrpflichtige, die keine scharfe Munition hatten.
Wer also hat geschossen, fragt auch Michael Rubin von der konservativen Denkfabrik AEI in Washington. Der Erdogan-Kritiker weist unter anderem darauf hin, dass nach offizieller Darstellung eine Kommandoeinheit der Aufrührer in der Putschnacht per Hubschrauber in den Urlaubsort Marmaris flog, um Erdogan festzunehmen.
Rubin verweist darauf, dass die Behörden den Hubschrauber fliegen ließen, obwohl zu dieser Zeit längst ein Flugverbot bestand. Als die Aufrührer in Marmaris ankamen, war Erdogan schon fort.
Angebliche Geständnisse mutmaßlicher Putschisten erscheinen nun ebenfalls in einem neuen Licht. So sagte Levent Türkkan, ein unter Putschverdacht verhafteter ehemaliger Adjutant des türkischen Armeechefs Hulusi Akar, vor Gericht aus, seine Aussagen über den Umsturzversuch und andere angeblich Beteiligte seien ihm unter Folter abgepresst worden. Türkkan war unmittelbar nach dem Putsch mit Verletzungen im Gesicht, an den Händen und am Bauch fotografiert worden.
Unbestritten ist, dass der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan und Generalstabschef Akar spätestens am Nachmittag des 15. Juli über den bevorstehenden Putschversuch informiert waren. Laut einem Bericht der regierungsnahen und über den Verdacht der Sympathie für Gülen erhabenen Zeitung „Yeni Safak“ meldete sich am frühen Nachmittag des 15. Juli ein Hubschrauberpilot in der Zentrale des Geheimdienstes MIT mit dem Verdacht, dass es Pläne für einen Umsturz gebe. Kurz darauf kamen MIT-Chef Fidan und Generalstabschef Akar zu einer längeren Unterredung zusammen und trennten sich laut Medienberichten erst eine halbe Stunde, bevor die Putschisten am Abend losschlugen.
Beginn des Putschversuchs um sechs Stunden vorgezogen
Schon am Tag vor dem Umsturzversuch sollen Geheimdienst- und Armeechef lange miteinander gesprochen haben. Die regierungskritische Nachrichtenplattform OdaTV meldete, das Treffen am 14. Juli habe sechs Stunden gedauert. Laut einem parlamentarischen Untersuchungsbericht zum Putsch erfuhren die Umstürzler, dass der MIT eingeweiht war, und zogen den Beginn des Aufstandes um sechs Stunden vor, von drei Uhr am Morgen des 16. Juli auf 21 Uhr am 15. Juli. Ex-General Caha und andere fragen sich, warum MIT und Armee nicht einschritten, sondern den Beginn des Aufstandes abwarteten.
Westliche Geheimdienste wollen wegen solcher Ungereimtheiten nicht der Darstellung der Erdogan-Regierung folgen. BND-Chef Bruno Kahl nannte den Putsch einen „willkommenen Vorwand“ für Erdogan, mit innenpolitischen Gegnern abzurechnen. Versuche Ankaras, die westlichen Verbündeten von der Täterschaft der Gülen-Bewegung zu überzeugen, seien nicht überzeugend.
Ob die Wahrheit über die Ereignisse vom 15. Juli jemals ans Tageslicht kommt, ist ungewiss. Armeechef Akar verweigerte eine Aussage vor der parlamentarischen Untersuchungskommission, die dann auch im Großen und Ganzen die Version der Regierung bestätigte. Dass Aussagen wie die von Ex-Brigadegeneral Caha im derzeitigen politischen Klima zu neuen, am Ende sogar unabhängigen Untersuchungen durch die ebenfalls auf Regierungslinie gebrachte Justiz führt, gilt als sehr unwahrscheinlich.