In die Aufarbeitung von Doping in Deutschland ist neue Dynamik gekommen. Nach der vor einer Woche exklusiv in „Main-Post“ und „Märkischer Oderzeitung“ veröffentlichten Akte VF-1220/13/72, die bundesfinanzierte Dopingforschung an der Uni Freiburg Anfang der 70-er Jahre belegt, haben am Wochenende auch überregionale Medien das Thema aufgegriffen. So zitierte die „Süddeutsche Zeitung“ aus dem noch unredigierten Bericht von 2012 der Forschergruppe der Berliner Humboldt-Universität zur Studie „Doping in Deutschland“. Weite Teile des Berichts wie Informationen über Kinderdoping, Experimente mit Anabolika in Tablettenform mit dem Medikament Dianabol oder positive Dopingproben von drei deutschen Spielern bei der Fußball-WM 1966 in England sind allerdings seit Juni bekannt: Nachzulesen für die Öffentlichkeit in einem Band („Doping in Deutschland: 1950 - 1972“) von Giselher Spitzer und weiteren Autoren, die ihre ersten Ergebnisse der vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und Bundesinstitut für Sportwissenschaften (BISp) initiierten Studie in Eigenregie veröffentlicht haben. Zahlreiche Medien, darunter diese Zeitung, hatten bereits Anfang Juli aus dem Band zitiert.
Zwar liegt den Auftraggebern seit längerem auch der Abschlussbericht der Wissenschaftler vor, den DOSB und BISp bislang jedoch nicht veröffentlichen wollen. Auf Nachfrage dieser Zeitung hatte das Bundesinstitut am 19. Juli geantwortet: „Die Entscheidung zur Veröffentlichung obliegt den Forschungsnehmern, da ausschließlich bei Ihnen als Urheber die inhaltliche Verantwortung für ihre Texte liegt.“ Es wurde auf datenschutzrechtliche Bedenken verwiesen, da in dem Bericht noch aktive Funktionäre, Ärzte und Sportler belastet werden. Vor allem Oppositionspolitiker von SPD und Grüne hatten in den vergangenen Tagen eine Veröffentlichung des Berichts gefordert und von „einem Skandal“ gesprochen. Auch Experten wie der Berliner Rechtsanwalt Johannes Weberling konnten die Begründung des BISp nicht nachvollziehen: Wer Datenschutz vorschiebe, „macht deutlich, dass es ihm nicht um Aufarbeitung und Transparenz geht“.
Am Wochenende hat nun das Bundesinnenministerium, dem das BISp unterstellt ist, reagiert: Die datenschutzrechtlichen Bedenken seien ausgeräumt, „so dass einer Veröffentlichung insoweit nichts mehr im Wege steht“, sagte ein Ministeriumssprecher. Das Innenministerium, das auch für Sport zuständig ist, habe „großes Interesse an einer lückenlosen Aufklärung und Bewertung der Dopingvergangenheit in beiden Teilen Deutschlands.“ Von den Forschungsergebnissen erhoffe man sich einen wichtigen Beitrag, betonte der Sprecher. Auch DOSB-Präsident Thomas Bach sprach sich für eine Veröffentlichung aus. Giselher Spitzer geht dies nicht weit genug: „Es wird wieder auf Zeit gespielt“, sagte der Anti-Doping-Experte auf Anfrage, „mich interessiert der Termin, an dem der Bericht veröffentlicht wird. Den hat das Ministerium nicht genannt“.
DOSB-Generalsekretär Michael Vesper erklärte in einer Stellungnahme: „Wir sind gespannt auf den Abschlussbericht, den wir in Kürze vom BISp erwarten. Der Bericht wird zusammen mit den Veröffentlichungen, die es von der Untersuchungskommission an der Uni Freiburg geben wird, sicher Grundlage für eine umfassende wissenschaftliche Diskussion über die Bewertung der Ergebnisse. Aus unserer Sicht gibt es bislang keine hinreichenden Belege dafür, die offensichtlich teilweise praktizierte Dopingforschung und deren Anwendung im Westen einfach mit dem top-down organisierten staatlichen Doping der DDR gleichzusetzen.“
Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, forderte, „dass die Namen der Betroffenen bekannt gegeben werden“. Im Wege der Aufarbeitung und Transparenz müssten „auch im Westen die Namen veröffentlicht werden, insbesondere von Personen, die noch einen Posten im Sport bekleiden“, sagte er. „Für die Leichtathletik kann ich das fast ausschließen, weil bei uns Anfang der 1990er Jahre ein Generationswechsel vollzogen wurde.“ Mittlerweile werden auch aus Kreisen der Regierung Konsequenzen gefordert: Nachdem die Grünen laut ihrer sportpolitischen Sprecherin Viola von Cramon eine Bundestagsanfrage vorbereiten, fordert nun die FDP-Bundestagsfraktion eine Sondersitzung des Sportausschusses des Deutschen Bundestags. „Der vorliegende Doping-Bericht muss sorgfältig ausgewertet werden, weil nach der Studie entgegen den bisherigen Vermutungen Doping auch von Seiten des Staates betrieben wurde. Die FDP-Bundestagsfraktion hält deswegen eine Sondersitzung des Sportausschusses zur Aufklärung der Vorgänge für unumgänglich“, sagte ihr sportpolitischer Sprecher Joachim Günther, Sport müsse unter fairen Bedingungen ablaufen, deswegen sei eine umfassende Aufklärung der von der Studie aufgeführten Vorgänge erforderlich. „Dabei muss es auch zu einer Gleichbehandlung kommen zwischen Ost und West, insbesondere was die Veröffentlichung der Namen von Sportlern angeht, die von den aktuellen Berichten betroffen sind.“ SPD-Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann sagte: „Ich will wissen, was da dran ist.“ In der „Welt“ sagte CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, eine solche Praxis sei nicht „zu rechtfertigen oder zu entschuldigen“.
Indes hält es der frühere Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) für „völlig ausgeschlossen“, dass Politiker auf bundesdeutsche Sportler 1972 Druck zum Doping ausgeübt haben. Genscher widersprach damit gegenüber der „Bild am Sonntag“ Berichten, wonach Politiker vor den Olympischen Spielen in München Druck erzeugt hätten. Genscher, der von 1969 bis 1974 Innenminister war, sagte: „Ich halte das für völlig ausgeschlossen.“ Die im Bundesarchiv in Koblenz gefundene Akte VF-1220/13/72 belegt jedoch die Verzahnung: Das 1970 gegründete BISp genehmigte und finanzierte Dopingforschung an der Uni Freiburg. Thema der Forschungen war unter anderem, inwieweit „durch Anabolika die Leistungsfähigkeit bei Kraftübungen“ gefördert wird. Experimentiert wurde auch mit Insulin bei Gesunden sowie bereits Wachstumshormonen. Mit Informationen von dpa