Der Begriff „Opfer sexueller Gewalt“ bedürfe einer „differenzierten Betrachtung“. Mit diesen Worten hat Bernhard Schweßinger, Pressesprecher der Diözese Würzburg, auf einen Gastbeitrag des Theologen Bernhard Rasche in dieser Zeitung reagiert. Rasche, der aus Bischofsheim (Lkr. Rhön-Grabfeld) stammt, hatte den Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen in den 70er Jahren im Internat Lebenhan (Lkr. Rhön-Grabfeld) scharf kritisiert.
Schweßinger erklärt: „Einen solchen Gastbeitrag sollte besser jemand schreiben, der tatsächlich missbraucht wurde, nicht jemand, der Zeuge war.“ In der aktuellen Diskussion würde der Opferbegriff, so Schweßinger, „zunächst die direkt betroffenen Opfer sexuellen Missbrauchs“ bezeichnen. „Darüber hinaus können Zeugen sexuellen Missbrauchs oder Angehörige von direkt betroffenen Opfern im weiteren Sinne auch Opfer sein“.
Gibt es in der katholischen Kirche Opfer erster und zweiter Klasse? Schweßingers Wertung empfindet Rasche als Schlag ins Gesicht. Er war eigenen Angaben zufolge selbst Opfer eines Übergriffes, eben nicht nur Zeuge. Er habe sich, so schilderte er dieser Zeitung, bei der ersten sexuellen Annäherung des damaligen Präfekten im Schlafsaal des Internats erfolgreich gewehrt. „Der Präfekt hat unter meine Decke gegriffen und meine Geschlechtsteile berührt. Da habe ich ihm auf die Hand geschlagen. Das hat ihn irritiert und er ist zum nächsten Bett gegangen.“ Fortan ist Rasche fast jede Nacht Zeuge von Übergriffen geworden, unter anderem auf seinen unmittelbaren Bettnachbarn. Dies sei auch dem für Lebenhan zuständigen Orden „Missionare der heiligen Familie“ bekannt gewesen.
Dagegen berufen sich der Orden und die Diözese Würzburg auf Auftritte von Rasche in der Öffentlichkeit. Dabei habe dieser gesagt, er sei kein Opfer. Bernhard Rasche stellt dazu klar: „Der Orden sah bei der Ermittlung der Zahlen nur jene als Opfer an, die Opfer in einem sehr engen rechtlichen Sinn geworden waren – und da gehörte ich nicht dazu.“ Er habe dieser Bewertung widersprochen und auf jene hingewiesen, „die neben einem Jungen schliefen, der Nacht für Nacht missbraucht wurde, die unter permanenter Angst litten und sich nicht trauten, sich zu bewegen, die ins Bett machten und die bis heute in ihrer Beziehung darunter leiden. Der von der Kirche ins Spiel gebrachte Opferbegriff mag juristisch okay sein, theologisch ist er es nicht“, so Rasche.
Dennoch steht für Michael Baumbach, den stellvertretenden Ordensleiter, fest: „Was sexuellen Missbrauch angeht, war Rasche kein Opfer, das hat er mir gegenüber selbst erklärt.“ Dabei heißt es schon in der ersten E-Mail von Rasche an die Diözese Würzburg, in der er am 27. August 2008 den Missbrauch anzeigt: „Ich melde meinen eigenen Missbrauch und den anderer Mitschüler der Diözese und dem Orden.“ Baumbach liegt nach eigenen Angaben diese Mail vor. Nach mehrmaligem Nachfragen räumt er überdies ein, dass er Kenntnis von einem Missbrauchsversuch an Rasche habe, den dieser abwehren konnte. Dennoch fragt Baumbach: „Warum bezeichnet sich Rasche erst jetzt als faktisches Opfer?“ Und: „Das scheint ja kein Ende zu nehmen.“ Zwar habe Rasche mit seiner Anzeige Mut bewiesen, doch „leider verselbstständigte sich sein Grundanliegen in einer Form, die den Opfern nicht mehr hilfreich ist.“
Für Susanne Porzelt vom Verein Wildwasser gegen sexuellen Missbrauch in Würzburg ist die Sachlage eindeutig. „Sobald ein Erwachsener zur Befriedigung der eigenen Lust das Geschlechtsteil eines Kindes anfasst, ist das ein sexueller Missbrauch. Schon der Versuch ist strafbar.“ Davon abgesehen könne die Hilflosigkeit bei Kindern, die Zeuge sexueller Übergriffe seien, zu schweren Traumatisierungen führen. „Die Symptome von denen, die beobachten, sind oft stärker ausgeprägt, als von denen, denen es unmittelbar passiert“, sagt die Expertin.
Auch Psychotherapeut Wunibald Müller, der das Recollectio-Haus im Kloster Münsterschwarzach leitet und Priester, Mönche, Nonnen und kirchliche Mitarbeiter betreut, wenn sie sich in einer Krisensituation befinden, erklärte auf Anfrage, dass man mit Menschen wie Bernhard Rasche, die so etwas Schlimmes durchlitten hätten, egal, ob als unmittelbares Opfer oder Zeuge, sehr sensibel umgehen müsse. Man könne zwar eine Unterteilung in primäre und sekundäre Opfer machen, doch müsse man jedem Betroffenen sein Leid klar zugestehen.
Katholische Christen wünschen sich Reformen in der Kirche
Die katholischen Christen wünschen sich einer neuen Milieustudie zufolge Reformen in ihrer Kirche. Die Kirche müsse sich ändern, wenn sie weiter bestehen wolle, heißt es in der Studie „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus“, wie die Münchner Medien-Dienstleistung GmbH mitteilte. Die Befragten hätten deutlichen Unmut gegenüber der aktuellen Kirchenleitung geäußert, während die Kirche vor Ort als positiv wahrgenommen werde. Außerdem zeichne sich eine „deutliche Individualisierung des Glaubens“ ab, der nur noch in wenigen Milieus an die katholische Kirche rückgebunden sei. Die christliche Religion gelte unter den Befragten als „zentraler Bestandteil der abendländischen Kultur“ und als Basis einer allgemein verbindlichen Ethik, so die Umfrage. Geschätzt werde den Angaben zufolge das soziale Engagement der Kirche. Die Zehn Gebote und die Nächstenliebe würden „in allen Milieus“ als wichtige Werte angesehen. Die Befragten wünschten spirituelle Orientierung und seelsorgerische Begleitung von ihrer Kirche. Die Münchner Medien-Dienstleistung hatte die Studie 2012 in Auftrag geben. Partner war das Heidelberger SINUS-Institut, das ein Milieumodell der deutschen Gesellschaft entwickelt hat. Bereits 2005 ist aus dieser Kooperation eine Studie entstanden, die nun aktualisiert wurde.