Die politische Landkarte in Österreich ist nach diesem Wahlsonntag fast komplett Türkis gefärbt. Wien sticht als kleiner roter Punkt hervor. In der Hauptstadt liegt die SPÖ noch vorne. Auch in Linz und Wels in Oberösterreich und in Südkärnten führen Sozialdemokraten knapp. Das endgültige Ergebnis liegt erst am Donnerstag vor, wenn eine Million Briefwahlstimmen ausgezählt sind, bei denen Grüne über- durchschnittlich gut abschneiden.
Sicher ist, dass der Abstand zwischen Volkspartei und Sozialdemokraten noch nie so groß war wie 2019.
Sebastian Kurz hat das Ergebnis „überwältigt“, sagte er. „Wir haben fast so viele Stimmen, wie Sozialdemokraten und Rechtspopulisten zusammen“. Dabei fällt auf, dass er seine früheren Koalitionspartner erstmals als „Rechtspopulisten“ bezeichnete. Kurz ist offenbar dabei, sich neu zu orientieren.
Der türkise Wahlabend gehörte der Basis und Kurz' zahllosen Wahlhelfern. Auf einer Prominenten-Party trafen sich erste Befürworter einer Koalition mit den Grünen. Der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler, ÖVP, gehörte dazu oder der frühere ÖVP-Chef Josef Pröll. Es sind die „Christsozialen“ in der ÖVP, die die Koalition mit der FPÖ eher ablehnten und von denen der Grünen-Chef Werner Kogler sagt, sie müssten für eine Koalition mit den Grünen wieder ausgegraben werden. Unausgesprochen erwarten sie jetzt einen Richtungswechsel: die Rückkehr von Sebastian Kurz zum offenen, zur Integration bereiten und konsensorientierten Politiker.
Ex-Vizekanzler und ÖVP-Chef Erhard Busek empfiehlt Kurz deshalb, „lang und ausdauernd“ mit den Grünen zu verhandeln. Verhandlungsgeschick habe Kurz innerhalb der ÖVP mit ihren Landesverbänden und Bünden bereits bewiesen, sagte gestern ÖVP-Urgestein Andreas Khol. Khol verhandelte schon 2002 an der Seite von Wolfgang Schüssel über eine schwarz-grüne Koalition. Die Verhandlungen scheiterten. Angeblich absichtlich, weil Schüssel der FPÖ weniger Zugeständnisse machen musste als den Grünen und deshalb das Bündnis mit ihnen vorzog. Werner Kogler saß damals neben Alexander Van der Bellen als Parteichef der Grünen am Verhandlungstisch.
Die Sozialdemokraten lecken nach dem Debakel erst einmal die Wunden. In wenigen Wochen stehen Landtagswahlen in Vorarlberg, der Steiermark und dem Burgenland an. SPÖ-Geschäftsführer Wolfgang Drozda, Vertrauter von SPÖ-Chefin Pamela Rendi Wagner, trat zurück. „Ein Wahlergebnis wie gestern muss Konsequenzen haben“, sagte er. Doch damit wird es nicht getan sein. Vorerst bleibt Rendi-Wagner. „Es drängt sich keine Alternative auf“, so ein prominenter Sozialdemokrat. Und natürlich stehe die SPÖ für Kurz als kleinerer Koalitionspartner zur Verfügung, sollten die Gespräche mit den Grünen scheitern. Das lassen zumindest Gewerkschaftsvertreter durchblicken, auch der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig sagte, die SPÖ sei für Koalitionsgespräche offen.
Die rechtspopulistische FPÖ will sich erst einmal in der Opposition erneuern. Das begann gestern mit weiteren offenen Angriffen gegen Ex-Vizekanzler und Ex-Parteichef Heinz Christian Strache. Fanden sich nach dem Ibiza-Video noch viele, die die Verdienste des langjährigen Parteichefs würdigten, trifft die Spesenaffäre auf keinerlei Verständnis. Dass er sein Privatleben auf Kosten der Partei finanziert haben könnte, erscheint der Basis unverzeihlich. Am Dienstag soll über Straches Parteiausschluss beraten werden.
Der steirische FPÖ Chef Mario Kunasek ist dafür, sollten sich die Vorwürfe in der Spesenaffäre erhärten: „Wenn das stimmt, sehe ich keine andere Möglichkeit“, sagte er. Strache behauptet, die Spesenaffäre sei eine Intrige. Er kritisierte Hofer auf Facebook: „Wer sich an die ÖVP anbiedert und den konsequenten bisherigen Weg einer sozialen Heimatpartei verlässt, darf sich nicht wundern, wenn viele gleich ÖVP wählen oder verunsichert werden.“
Die glücklichen Grünen haben am Sonntagabend lange und ausgelassen ihr Ergebnis gefeiert. „Die Weltrettung soll auch Spaß machen“, rief Werner Kogler seinen Parteifreunden zu. Am Montag äußerten sich öffentlich vor allem Koalitionsskeptiker. Die Grünen müssten sich treu bleiben und die Erwartungen ihrer meist jungen Wähler erfüllen, ist die wichtigst Überlegung. Aber bei der CO2-Steuer ließ Kogler erstmals Kompromissbereitschaft gegenüber der ÖVP erkennen.
Ebenso viele Österreicher unter 30 wählten am Sonntag die Grünen wie die ÖVP. Auch bei Frauen unter 45 Jahren liegen ÖVP und Grüne gleichauf. Während das Wahlmotiv für 62 Prozent der Grünenwähler Umwelt und Klimaschutz waren, wählten 30 Prozent der ÖVP Anhänger die Partei wegen Sebastian Kurz. Wie sehr Kurz polarisiert, zeigt sich daran, dass die vergangenen Monate zu einer Art „Anti-Kurz-Wahlkampf“ geworden sind. Kurz hatte deshalb die städtische Szene gemieden und sich auf dem Land als Wahlkämpfer erfolgreich erneuert.
Er appelliert an die Gegner, den politischen Stil zu ändern und einen „Umgang in Würde und Respekt“ zu pflegen. Er sehe drei Koalitionsvarianten, erklärte er. Mit der Sozialdemokratie, mit der Freiheitlichen Partei und mit den Grünen bzw. den Grünen und den Neos. Die Liberalen erzielten acht Prozent und könnten eine Parlamentsmehrheit mit den Grünen vergrößern. Kurz hat vor, „verantwortungsvoll mit allen Parteien Gespräche zu führen und zu sondieren, wo eine Koalitionsmehrheit möglich wäre“. Dann wolle er sich unabhängig vom Druck der Medien entscheiden. Der Kampf gegen den Klimawandel sei für ihn wichtig. Aber auch zu wissen, „wer bei uns lebt. Also die Migration zu kontrollieren, und die Wirtschaft zu stärken.“ Eine CO2-Steuer lehne er ab.