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Wahl in Österreich: Eine ganz einfache Rechnung
Austria presidential final campaigning       -  Kontra Populismus: Österreichs frisch gewählter Bundespräsident Alexander Van der Bellen
Foto: Christian Bruna, dpa | Kontra Populismus: Österreichs frisch gewählter Bundespräsident Alexander Van der Bellen
Mariele Schulze-Berndt
 |  aktualisiert: 11.12.2016 04:07 Uhr

Der künftige österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat als Wirtschaftsprofessor das Rechnen gelernt. Diese Fähigkeit konnte er sich jetzt zunutze machen. Er hat auf dem Land um Wähler geworben. Dort, wo er in der ersten Stichwahl im Mai schlecht abgeschnitten hat. Nach Umfragen hatten dort viele Menschen das Gefühl, ihnen werde nicht zugehört, schon gar nicht vom Städter Van der Bellen. Das änderte der ältere Herr mit zahllosen Gesprächen. Bereits im August machte sich der 72-Jährige zusammen mit seiner Frau und den beiden Hunden „Chico“ und „Kita“ auf die erste Wanderung in seiner Heimat, dem Tiroler Kaunertal. Er gehe gern gemeinsam mit seiner Frau wandern, scherzte er gegenüber den eingeladenen Journalisten damals. „Nur die Hunde sind schon so alt“. Die erste Wanderung war bequem, nur drei Stunden lang bis auf 2200 Meter Höhe. Während der Zigarettenpause erzählte Van der Bellen von seiner Jugend in Tirol.

Die Kaunertäler seien keine „Hinterwäldler“, sondern moderne und aufgeschlossene Leute, stellte er klar und bewies auf zahllosen Kirtagbesuchen und Erntedankfesten in den folgenden Wochen, dass er auch nichts gegen Trachtenjanker hat. Schließlich haben 140 Bürgermeister, organisiert vom ehemaligen EU-Landwirtschaftskommissar Franz Fischler, einem bekannten Freund der Bergbauern und Tiroler für Van der Bellen geworben. „Seine Hinwendung zur Heimat hat sich ausgezahlt“, sagen die ersten Analysten am Wahlabend. Van der Bellen versteht es, die rot-weiß-rote Heimatliebe damit zu verbinden, dass seine Eltern selbst als Flüchtlinge nach Österreich gekommen waren. Sein Vater war Russe, seine Mutter Estin. Die ursprünglich aus Holland stammende Familie war im 19. Jahrhundert in den russischen Adelsstand erhoben worden. Vor der Oktoberrevolution war sein Großvater als Liberaler politisch im russisch-estländischen Grenzgebiet aktiv gewesen.

Deshalb floh die Familie 1919 nach Estland und nachdem Stalins Truppen 1940 in Estland einmarschierten erneut Richtung Westen. Van der Bellens Vater hatte als Bankier Repressalien zu befürchten. In Wien wurde 1944 der kleine Alexander geboren. Als die Rote Armee Ostösterreich eroberte, zog die Familie ins Kaunertal, später dann nach Innsbruck, wo die Kinder die Schule besuchten und der künftige österreichische Präsident zunächst studierte und dann auch lehrte.

In Innsbruck geschah auch, was die FPÖ im Wahlkampf gegen ihn verwandte: Als 21-jähriger Student wählte Van der Bellen bei den Innsbrucker Gemeinderatswahlen die Kommunistische Partei, die damals für niedrigere Mieten warb. Van der Bellen selbst berichtet darüber in seinem Buch und die FPÖ griff es auf, um Ängste gegen ihn zu schüren. In der Tat hat der Vorwurf, kommunistisch orientiert zu sein, bei etlichen Wählern, die aus der bürgerlichen Mitte kommen, zunächst verfangen. Doch schließlich siegte wohl die Information in den zahlreichen TV-Duellen, wo Van der Bellen die Jugendsünde klarstellen konnte. Anstatt die Kommunisten wählte Van der Bellen zunächst unter dem Eindruck der Persönlichkeit Bruno Kreiskys die SPÖ.

Von 1976 bis Anfang der 1990er Jahre lehrte er in Innsbruck und Wien Ökonomie und wurde zunächst Mitglied, dann 1994 Abgeordneter der Grünen. Obwohl er vielen der in Österreich eher fundamentalistisch orientierten Grünen zu wirtschaftsliberal war, wählten sie den oft ironischen Professor 1997 zum Partei- und 1999 zum Fraktionssprecher.

In dieser Rolle führte er sogar Koalitionsverhandlungen mit dem ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel, die aber an Differenzen über den Eurofighter scheiterten. 2008 dankte Van der Bellen als grüner Spitzenpolitiker ab und stellte jetzt seine Mitgliedschaft ruhend. Auf manche junge Österreicher wirkt er manchmal „fad“ und wenig motiviert. Doch viele Jugendliche engagierten sich im Straßenwahlkampf für ihn, um Hofer zu verhindern. So wandelte sich sein Image im Präsidentschaftswahlkampf ein wenig. Gerade bei Themen, die ihm wichtig sind, wie der Arbeitsmarkt und die Europäische Union engagiert er sich spürbar, auch wenn er sich als Bundespräsident eher zurückhalten will. Offensichtlich unterwarf er sich in vielem den Ratschlägen seiner Spindoktoren.

Dass sich zahlreiche sozial- und christdemokratische Politiker, bis hin zu den Parteivorsitzenden Christian Kern, SPÖ, und Reinhold Mitterlehner, ÖVP, für ihn aussprachen, liegt an dem breiten Wunsch, den Rechtsextremen Norbert Hofer als Bundespräsidenten zu verhindern. Das starke Engagement der demokratischen Kräfte, der aufgeschlossenen Wirtschaftstreibenden und der in der Versenkung verschwundenen Künstler, wie zum Beispiel André Heller, zeigt, dass Österreich sich als Republik nicht auf die rückwärtsgewandte Politik der Freiheitlichen reduzieren will. Van der Bellen, der schon einmal dachte, die Stichwahl gewonnen zu haben, sagte am 23. Mai nach der ersten Stichwahl: „Es sind zwei Hälften, die Österreich ausmachen. Die eine Hälfte ist so wichtig wie die andere. Ich könnte sagen, Du bist so wichtig, wie ich und ich bin gleich wichtig wie du. Und gemeinsam ergeben wir dieses schöne Österreich“. Eine ganz einfache Rechnung.

 
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