(epd/dpa) „Es ist das Schrecklichste, das ich in mehr als 30 Berufsjahren gesehen habe. Und für meine Kollegen gilt das Gleiche“, sagte Gerichtsmediziner Wayne Carver. In nüchtern-professionellen Worten erklärte er der entsetzten Öffentlichkeit, dass jedes der Kinder von mehreren Schüssen getroffen wurde. Teilweise fanden sich elf Einschusslöcher in den kleinen Körpern. Der Täter hatte mit zwei Pistolen und einem Sturmgewehr geschossen. Der Nachbau der Standardwaffe der US-Streitkräfte kostet im Laden etwa 700 Dollar, gekauft hatte ihn die Mutter, genauso wie die beiden Pistolen. Die Frau wurde das erste Opfer ihres Sohnes.
In den USA sind mehr Waffen in Privatbesitz als in jedem anderen Land der Welt – Statistiker gehen von rund 270 Millionen aus (Stand 2007). Mehr als 40 Prozent aller US-Haushalte besaßen einer repräsentativen Umfrage des Gallup-Instituts zufolge im vorigen Jahr eine Schusswaffe. Etwa 30 000 Menschen jährlich sterben in den USA wegen des Gebrauchs dieser Waffen – die Hälfte von ihnen begeht Selbstmord. Die Zahl der mit Pistolen verübten Morde liegt bei 10 000 bis 12 000 pro Jahr.
Weltweit an der Waffen-Spitze
Dennoch sprachen sich bei einer Befragung 2010 nur 44 Prozent der US-Bürger dafür aus, die Waffengesetze zu verschärfen. 54 Prozent waren dafür, sie unangetastet zu lassen oder sogar abzumildern. Mehr als zwei Drittel sind gegen ein Gesetz, das den privaten Besitz von Feuerwaffen verbietet. Auch beim Ex- und Import von Klein- und Leichtwaffen lagen die USA nach Angaben des unabhängigen Genfer Forschungsprojekts Small Arms Survey 2009 an der Spitze – und zwar weltweit.
Das Recht auf Waffen wurde vor mehr als 220 Jahren im zweiten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung verbrieft: „Da eine gut organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden“, heißt es dort. Das US-Waffenrecht ist von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. Entwickelt hat sich ein Durcheinander von mehr als 20 000 nationalen, einzelstaatlichen und kommunalen Vorschriften.
Strengere Gesetze möglich?
Dass der Ruf nach schärferen Waffenkontrollen laut wird, erleben die US-Bürger derzeit nicht zum ersten Mal, es gehört zum furchtbaren Déja-vu. „Wir haben in diesem Land zu viele dieser Schießereien gesehen“, sagte Präsident Barack Obama am Wochenende unter Tränen. Doch bisher blieben striktere Gesetze aus.
Schusswaffen garantierten Freiheit, behauptet der nach eigenen Angaben drei bis vier Millionen Mitglieder zählende Verband der Schusswaffen-Freunde, die „National Rifle Association“. Viele US-Amerikaner halten an diesem ideologischen Bekenntnis zu Schusswaffen fest. Allerdings geht die Zahl der Waffenbesitzer nach einer wissenschaftlichen Studie der New-York-Universität zurück: In den 70er Jahre habe die Hälfte der US-Bürger angegeben, eine Schusswaffe zu haben, heute sei es nur mehr etwa ein Drittel. Schusswaffenverbände lehnen Kontrolle grundsätzlich ab. Die Täter und nicht die Schusswaffen seien schuld, wenn jemand erschossen werde, heißt es. Der Vorsitzende der Vereinigung „Schusswaffenbesitzer von Amerika“, Larry Pratt, erklärte, der Massenmord habe geschehen können, weil „kein Erwachsener in der Schule“ eine Waffe zur Verteidigung gehabt habe.
Hoffnung angesichts der toten Kinder
Dennoch hoffen die Waffengegner, dass sich diesmal, nachdem 20 Kinder unter den Toten sind, nun wirklich etwas ändern könnte. Nach dem Verbrechen versammelten viele sich vor dem Weißen Haus in Washington zu einer Mahnwache. „Herr Präsident, ich bete dafür, dass Sie handeln“, war auf Plakaten zu lesen. „Wie jung müssen die Opfer sein und wie viele Kinder müssen sterben, bevor wir die Verbreitung von Waffen in unserem Land stoppen?“, fragte Marian Wright Edelman, die Vorsitzende des Children's Defense Fund, einer Organisation zum Schutz von Kindern.
Wenn jetzt nicht „die Menschen und unsere Politiker“ wachgerüttelt würden, wann dann, fragt die Kongressabgeordnete Carolyn McCarthy, deren Mann bei einer Schießerei 1993 getötet worden war. Sie kündigte an, dass sie in Washington auf Änderungen pochen wird. „Ich werde nicht mehr zurückweichen“, zitierte die „New York Times“ die Demokratin im Kampf gegen das bestehende Waffenrecht. Die Schießerei in Newtown sei ein „Game Changer“, ein Ereignis, das grundsätzliche Änderungen bringt, meinte auch David Chipman, ein früherer Beamter der Bundespolizei ATF, in der „New York Times“.
Ein Revolver für den Gabentisch
Unterdessen wirbt kurz vor Weihnachten der Verband der Schusswaffenindustrie (National Shooting Sports Foundation) für Revolver auf dem Gabentisch. Eine Schusswaffe sei doch ein gutes Geschenk für „Familienangehörige, gute Freunde und Verwandte“, empfiehlt die Website. Mit den Waffen sei natürlich auch Verantwortung verbunden, doch es gebe „kein Bundesgesetz, das die Schenkung einer Schusswaffe an einen Verwandten oder Freund, der in Ihrem Haus wohnt, verbieten würde“. Der Verband hat sein Hauptquartier in Newtown, fünf Kilometer entfernt von der Sandy-Hook-Schule. Zu der „entsetzlichen Tragödie in unserer Community“ wolle die National Shooting Sports Foundation nichts sagen – „aus Respekt“ für die Familien der Opfer.