
Michael Jäcker-Cüppers hat auf jeden Fall schon mal dies: eine angenehme Stimme. Gut zum Zuhören. Also auch nicht zu laut, man muss das Telefon nicht vom Ohr weg halten. Es gibt ja Menschen, die brüllen ins Telefon. Vermutlich weil sie selber schlecht hören oder der Technik nicht trauen. Jedenfalls, so einer ist Jäcker-Cüppers nicht, spricht angenehm, zählt sich selbst auch zu den Lärmempfindlichen. Er sagt, deswegen kann er sich auch gut einfühlen in die Menschen, die unter Lärm leiden. Er tut es ja selber.
Was ihn zum Beispiel stört: Wenn aus der Kneipe im Erdgeschoss des Hauses bis zwölf Uhr nachts noch Geschirrklappern zu hören ist. Oder: Wenn nachts das Gehupe losgeht, weil wieder ein Autofahrer eingeparkt wurde. „Da stellen sich einige immer in die zweite Reihe, und dann geht es los.“ Jäcker-Cüppers wohnt in Berlin, ziemlich mittendrin, es gibt ein Lied aus den 70ern, das ein Hit geworden ist: „Kreuzberger Nächte sind lang . . .“ Man kann das auch für andere Stadtteile gelten lassen. Der Text des Liedes kam etwas holprig daher, aber er ließ sich dafür gut grölen: „Erst fang' se ganz langsam an, aber dann, aber dann.“
Die Nächte und die Ruhe. Oder die Nächte und die Stille. Die „Stille Nacht“. Darum geht es. Und ums: aber dann! Um die Huperei, die Autos, die Züge; um den ganzen Lärm eben, den so ein Land auch in der Nacht macht. Obwohl es da doch schlaftrunken ist. Darüber weiß Jäcker-Cüppers Bescheid. Das Thema ist für ihn mehr als nur ein persönliches Anliegen. Er hat ein Amt inne, das ihn sozusagen zum Sprecher aller Lärmempfindlichen macht: Vorsitzender des „Arbeitsring Lärm der Deutschen Gesellschaft für Akustik“, kurzerhand ALD. Ein Mann, dem man also mal grundsätzliche Fragen stellen kann. Zum Beispiel diese: Wie still ist die Nacht in Deutschland?
Klar bekommt man da keine einfache Antwort, geht ja gar nicht. Zwischen Kreuzberg und den Alpen, da muss es schließlich einen Unterschied geben. Und still? Still ist die Nacht weder da noch dort. Still wäre die Nacht auf dem Haleakala Vulkan auf der Insel Maui. Einer der leisesten Orte der Welt, weil dort die Vulkanasche Töne absorbiert. Oder im Olympic National Park im US-Bundesstaat Washington. Oder im Amazonas bei den Cofán-Indianern. Oder in der Kalahari-Wüste. Und selbst da. „In Wahrheit ist Stille auf der Erde eine Illusion“, schreibt die Buchautorin Sieglinde Geisel: „Wir hören sie nur, weil unsere Hörfähigkeit begrenzt ist.“ Wäre unser Gehör nämlich empfindlicher, würde der Mensch auch die Moleküle in der Luft als ständiges Hintergrundrauschen hören. Ihrem Buch hat sie daher den Titel gegeben: „Nur im Weltall ist es wirklich still“. Es ist ein wunderbares Buch, ein paar Anekdoten daraus noch später. Geklärt wäre damit aber schon dies: Stille Nächte gibt es nicht, kann es gar nicht geben, nur ruhige. Weniger laute.
Die Frage also muss lauten: Wie ruhig ist es denn, wenn das Land im Schlaf versinkt? Und eigentlich ahnt man ja schon, wie die Antwort von Jäcker-Cüppers ausfallen wird, hat es im Gefühl. Nämlich so: „Die Nacht ist nicht wirklich ruhig.“ Braucht man da überhaupt Zahlen? Besser schon. Jäcker-Cüppers hat sie. Sie sind fünf Jahre alt, aber geändert haben wird sich wenig. Der Lärm verschwindet nicht einfach. Wäre ja auch zu schön.
Gemessen haben sie in drei Städten am 24. Dezember, also in der Nacht, die eigentlich vom Namen her die stillste sein müsste. Das ist natürlich nicht so: Irgendwie muss man ja zum Weihnachtsfest hinkommen, irgendwie auch wieder nach Hause. Unterwegssein aber macht Krach. In Dresden, in München, in Berlin. Die Ergebnisse aus München, Stadtteil Obermenzing: 44,2 Dezibel, so laut ist die Nacht im Mittelungspegel. Ein wenig leiser als in Dresden und Berlin, aber nicht wesentlich. Was die Weihnachtsruhe hier wie dort stört: vor allem Straßenverkehr. Etwa bis ein Uhr dreißig. Dann wird es still und stiller.
Am stillsten ist es zwischen drei Uhr vierzig und vier Uhr vierzig, dann geht allmählich das Getöse wieder los. In München gab es ein paar Sekunden, da lag der Schallpegel bei 29 Dezibel. Um einen Vergleich zu haben: So laut sind auch zwei Menschen, die flüstern. Der höchste Wert in München: An die 65 Dezibel, etwa so laut wie das Geplapper und Geklapper in einer Kantine.
Zahlen sind das eine. Man kann sie vergleichen, mit ihnen versuchen, Politik zu machen, etwas durchzusetzen: eine Umgehungsstraße, eine Tempo-30-Zone, eine Lärmschutzmauer. Man kann damit einem Biergarten den Garaus machen. Solche Sachen. Man kann sie auch in Richtlinien schreiben. Laut Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation sollte der Lärmpegel von 45 Dezibel nachts nicht überschritten werden. Denn ja, auch das weiß irgendwie jeder, Lärm kann einen krank machen. Und zwar selbst dann, wenn man schläft. Bei einer Studie in Mainz wurden 75 Freiwillige nachts an Blutdruck- und Pulsmessgeräte angeschlossen. Und dann beschallt: zum Beispiel mit dem Geräusch landender Flugzeuge. Das Ergebnis: Blutdruck und Adrenalin stiegen. Purer Stress also für die Blutgefäße.
Aber zurück zu den Zahlen und zu dem, was sie nicht sagen. Nämlich wie der Einzelne Geräusche empfindet, was es mit ihm macht, wenn die Nacht nicht still ist. „Lärm ist interpretiertes Geräusch“, heißt es im Buch von Sieglinde Geisel. Es kann einer zum Beispiel vom lauten Kreuzberg in einen Einödhof in Bayern ziehen, aber dann knackt da nachts die Heizung. Und macht ihn verrückt. Und der Partner schnarcht noch immer so wie in Berlin. Im Buch von Sieglinde Geisel findet sich ein Extrembeispiel: die Geschichte vom Gott Ellil, aufgezeichnet von den Sumerern vor rund 3800 Jahren. Die Geschichte geht so:
„Das Lärmen der Menschheit ist zu groß geworden, ich verliere Schlaf über ihrem Getöse“, klagte Gott Ellil im Kreis der anderen Göttern. Das ganze Land lärme wie ein schnaubender Stier. Was Ellil tat: Er schickte Seuchen, Dürren und Hungersnöte. Als das aber alles nicht half, die Menschheit nur schwach, aber immer noch laut blieb, entschied er sich für die radikale Lösung: Er ertränkte sie in einer Sintflut. Da war die Nacht wieder still.
Keine dauerhafte Lösung natürlich. Die Menschheit lärmt mehr denn je. Auch in der Nacht. Klappert mit dem Geschirr, hupt, braust umher, treibt den Pegel Jahrzehnt für Jahrzehnt in die Höhe. Lärm gilt als das Umweltproblem Nummer eins. Da rasten nicht nur Götter aus.
Vor hundert Jahren zum Beispiel hätte man nicht bei Michael Jäcker-Cüppers angerufen, sondern bei Theodor Lessing, ein wichtiger Mann damals im Kampf gegen den Lärm. 1908 gründete er den „Deutschen Antilärm-Verein“, ließ Buttons mit der Aufschrift „Ruhe ist vornehm“ verteilen. Wenn man liest, was der Philosoph damals in seiner Kampfschrift unter dem Titel „Der Lärm“ geschrieben hat, kann man sich vorstellen, wie so ein Telefonat verlaufen wäre. Der Mann hätte vermutlich in den Hörer geschrien. Brüllend nämlich lesen sich auch seine Sätze: „Alle Augenblicke ein unangenehmes Geräusch.“ Oder: „Riesenautos, Achthundertpfünder, stöhnen, ächzen, quietschen, hippen und huppen. Motorräder fauchen und schnauben durch die stille Nacht.“
Die Sache ließ sich gut an, es gab prominente Mitstreiter, 20 000 Beitrittsformulare wurden versandt. Drei Jahre später legte Lessing den Vorsitz nieder. Lediglich etwas mehr als 1000 Mitglieder hatte er gewinnen können. Er verabschiedete sich schriftlich mit den Worten: „Unsere Sache kam zu früh, wird sich aber wieder melden und siegen.“ So könnte man nun vor- und zurückspringen in der Zeit, zu Seneca zum Beispiel, der sich über die Römer Nächte beschwerte: „Hier sterben viele, weil Schlaflosigkeit sie krank gemacht hat.“ Oder zu Immanuel Kant, der seinem Nachbarn einen Hahn abkaufte und den Ruhestörer verspeiste. Oder, oder, oder. „Das Leiden am Lärm ist so alt wie die Menschheit“, schreibt Geisel.
Was aber machen, wenn die Nacht einfach nicht still werden will? Wenn in der Nachbarwohnung die Party tobt oder das Baby weint oder draußen der Verkehr faucht und schnaubt, hippt und hupt. Oder, großes Problem in Berlin, die Touristen auf dem Weg zu ihren Nachtquartieren mit ihren Rollkoffern lärmen. Der Komponist John Cage empfahl folgendes: „Wenn ein Lärm sie stört, dann hören sie ihm zu.“ Was mit der Meeresbrandung klappt, der man gerne lauscht, kann ja vielleicht auch mit den Güterzügen funktionieren, die nachts durchs Land rattern. Von der Dezibelzahl ja durchaus vergleichbar. Aber geht das? Kann man sich mit jedem Lärm einfach versöhnen?
Schwierig. Kompliziert. Das ganze Thema. Was Michael Jäcker-Cüppers noch sagt: Das Problem sei natürlich auch, dass die Menschen immer gestresster sind. Den Lärm immer weniger abhaben können. Und dann wohnen sie immer enger zusammen, immer weniger auf dem Land, immer mehr in der Stadt. In Brandenburg heulen nachts schon die Wölfe. Die Lautstärke des Geheuls beträgt im übrigen über 100 Dezibel, vergleichbar mit dem Lärm einer Motorsäge.
Die Stille der Nacht, sie ist eben doch nur eine Illusion. Und selbst im Weltraum kann man sie nicht genießen. Die Ventilatoren in der Raumstation sind laut, schreibt Sieglinde Geisel: Die Astronauten schlafen daher mit Ohrstöpseln. Von wegen himmlische Ruh.