Der Erste Weltkrieg war eine Woche alt, da trat auch Großbritannien in die Kampfhandlungen ein. Viele Historiker sind heute der Meinung, dass das nicht nötig war. Großbritannien gewann den Krieg, zahlte aber einen hohen Preis: Zwischen 800 000 und 1 000 000 Soldaten verloren die Briten – je nachdem, ob die Empire-Truppen mitgezählt werden. 100 Jahre nach Ausbruch des Krieges sind einige Historiker der Ansicht, dass erst der Eintritt Großbritanniens in die Kampfhandlungen den europäischen Kontinentalkrieg zum Ersten Weltkrieg machte. London wollte das Deutsche Reich auf seinem Weg zur Weltmacht stoppen. Und später nicht zuletzt auch seine eigenen Interessen, etwa im Nahen Osten, durchsetzen. Der deutsche Historiker Andreas Gestrich spricht im Interview über die Bedeutung des Ersten Weltkriegs in Großbritannien, die Erinnerungskultur, die sich stark von jener in Deutschland unterscheidet, und warum das Gedenken auch von der Gegenwart beeinflusst wird.
Andreas Gestrich: Er stellte auch für Großbritannien die 'Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts‘ dar. Die Zahl der britischen Opfer war deutlich höher als im Zweiten Weltkrieg. Das sieht man an den endlosen Gefallenenlisten auf jedem britischen Dorffriedhof. An den Gedenktafeln in den Universitäten von Oxford und Cambridge erkennt man zudem, dass gleich zu Beginn des Krieges die Elite des Landes dezimiert wurde. Schließlich wurden die gesamten Ressourcen des British Empire in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in Anspruch genommen.
Gestrich: Deutschland hat den Krieg verloren. Es gibt deshalb keine Erinnerungskultur, die sich auf die Schulter klopfen kann. Sie zielt eher darauf ab, Kriege in Zukunft zu verhindern. In Großbritannien ist die Erinnerungskultur durch die Überzeugung geprägt, für die richtige Sache gekämpft zu haben. Deshalb können und wollen die Briten ihre Opfer anders ehren. Man darf allerdings nicht übersehen, dass auch hier der Erste Weltkrieg keineswegs unumstritten war und ist, weder unter Historikern noch im öffentlichen Diskurs.
Gestrich: Es sind auch hier keine Freudenfeste, sondern Gedenkfeiern, die sensibilisieren sollen. Aber das Bedürfnis, die Opfer positiv zu ehren, ist ausgeprägter und leichter zu bedienen als in Deutschland. Hinzu kommt, dass 2014 das erste große Gedenkjahr ist, bei dem es keine Überlebenden mehr gibt. Der Krieg geht jetzt vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis über. Daher bemüht man sich nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der öffentlichen Erinnerung um so etwas wie ein definitives Bild des Krieges. Jetzt geht es darum: Wie werden die beteiligten Gesellschaften diesen Krieg in Zukunft erinnern?
Gestrich: Sicher erhöhen die derzeitigen Auseinandersetzungen um die Zukunft Europas die Bereitschaft zu einer kontroversen Gedächtniskultur in Bezug auf den Ersten Weltkrieg. Dazu kommt, dass die gegenwärtigen militärischen Interventionen gerne mit Verweisen auf das richtige Engagement im Ersten und Zweiten Weltkrieg legitimiert werden. Lohnt es sich, dass wir in Afghanistan oder in Libyen kämpfen? In die Antwort auf die Frage spielt auch die 'richtige‘ Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hinein.
Gestrich: Die Aussagen von Gove wurden in Großbritannien kontrovers diskutiert. Historiker und eher linksliberal orientierte Medien wehrten sich gegen seine zum Teil sachlich falschen Darstellungen, aber auch gegen die eindimensional antideutsche Stoßrichtung seiner Äußerungen. Es ist interessant, dass diese alte Debatte nochmals so hochkocht. Denn es wurden keine wirklich entscheidenden neuen Quellen zur Frage des Kriegsausbruchs gefunden, für den Deutschland ein hohes Maß an Verantwortung trägt. Allerdings weist Clark zu Recht darauf hin, dass dem Attentat in Sarajewo und der serbischen Politik, aber auch dem langen Desinteresse der britischen Regierung an den Vorgängen auf dem Balkan ein größeres Gewicht beigemessen werden muss, als es die Erklärungsansätze bisher getan haben.
Gestrich: Äußerungen wie die von Gove hängen deutlich mit der gegenwärtigen Großwetterlage in Europa zusammen. Auch die interne Debatte über die Positionierung Großbritanniens in Europa läuft dabei als Subtext immer mit. Dazu kommt häufig das Unbehagen über eine gefühlte deutsche Dominanz in Europa, für deren Verhinderung man auch in den Ersten Weltkrieg gezogen sei. Besonders die deutsche Griechenlandpolitik wurde in vielen britischen Medien als Rückfall in unangenehme Traditionen deutscher Machtpolitik kritisiert.
Gestrich: Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch die Verschuldung bei den USA brachte der Erste Weltkrieg für Großbritannien den Anfang vom Ende des Empire. Der Krieg delegitimierte die europäische Kolonialherrschaft – auch die britische. Kolonialtruppen aus Indien und anderen Teilen des Empire mussten an den europäischen Kriegsschauplätzen kämpfen. Davor war Europa in den Kolonien immer als angeblich zivilisierende Macht aufgetreten. Nun erfahren diese Länder, dass Europa ein Kontinent ist, der barbarischer nicht sein könnte. 1918 beginnt die Erosion des Empire.
Andreas Gestrich
Der Historiker Andreas Gestrich (63) leitet seit 2006 das Deutsche Historische Institut in London. Es ist ein Institut der Max Weber Stiftung. Die Institution erforscht die britische Geschichte und repräsentiert die deutsche Geschichte und Geschichtswissenschaft in Großbritannien. Zuvor war Gestrich als Professor der Neueren Geschichte an der Universität Trier tätig. Zu den Forschungsschwerpunkten des gebürtigen Ravensburgers gehört unter anderem die britische Geschichte. FOTO: Universität Trier