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Von der Wolga in den Weltraum
Zeitzeuge: Joseph Milchteine ist ein Pionier der russischen Raumfahrt. Er erzählt von Triebwerken und Raketen. Und von deutschen Ingenieuren in der Sowjetunion, von denen nun die USA profitieren.
„Space Night“ in der Posthalle
Foto: AFP/ Andrei Sokolov | „Space Night“ in der Posthalle
Von unserem Redaktionsmitglied Angelika Becker
 |  aktualisiert: 23.12.2015 11:58 Uhr

Sehnsuchtsort ist er für Philosophen, Techniker, Wissenschaftler, Künstler, Machtpolitiker – der Weltraum. Romanautor Jules Verne schickte 1865 die Amerikaner als erste Astronauten zum Himmel. Er hatte sich getäuscht. Knapp hundert Jahre später waren deren damalige Erzfeinde die Pioniere im All. Am 12. April 1961 umrundete der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin die Erde.

Wiederum ein halbes Jahrhundert später klopft der 92-jährige Professor Joseph Milchteine an die Tür des Würzburger Informatikprofessors Sergio Montenegro und erzählt als Zeitzeuge eine Geschichte der Menschen, die in einem Dorf an der Wolga geholfen haben, den Traum von der Weltraumfahrt Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist die Geschichte von Begeisterung, Ängsten und Hoffnungen auch deutscher Fachleute. Joseph Milchteine kam am 20. August 1920 als Sohn jüdischer Eltern in Odessa am Schwarzen Meer zur Welt. Als 18-Jähriger ging er nach Leningrad zum Maschinenbaustudium. Technik, Mathematik, Physik sind sein Leben. „Ich lese lieber ein Mathematikbuch als einen Roman“, sagt der 92-Jährige.

Die Liebe zu den Zahlen führte ihn weiter nach Moskau. Nicht die Studenten entschieden in der Sowjetunion über ihren Weg, sondern der Staat wählte aus, wer wo gebraucht wurde, erzählt Milchteine. „Ich war immer ein guter Schüler“, sagt er. Und das brachte ihn dorthin, wo ein besonderes Interesse des Staates lag: zur Luft- und Raumfahrt. Ab 1950 arbeitete er bei NK-Motoren in Upravlentscheskiy bei Samara. Das Unternehmen war ein Experimental-Konstruktionsbüro und sollte deutsche Technik nach dem Zweiten Weltkrieg verwerten. Als lebendige Reparationszahlungen arbeiteten dort Ingenieure unter anderem der Dessauer Junkerswerke.

Milchteine wurde an die Wolga geschickt. Dorthin verschleppt wurden die deutschen Spezialisten, erzählt Kurt Wittke, der als kleiner Junge dabei war und nun ein Betroffenen-Netzwerk leitet. „Am 22. Oktober 1947 genau um fünf Uhr umstellten russische Soldaten das Haus. Wir hatten zwei Stunden Zeit zu packen“, erinnert sich der Dresdner am Telefon. In einer generalstabsmäßig geplanten Aktion wurden die Familien abgeholt. Das Bild der Oma, die zurückblieb und die er nie wieder sah, blieb Wittke vor Augen. Die zwölftägige Zugfahrt brachte dem damals Achtjährigen weitere Bilder, die er nicht vergisst. Er erzählt von zwei Männern und einer Frau, die Gepäck stahlen und standrechtlich erschossen wurden. „Ich sehe, wie sie über das Brückengeländer kippen.“ Mitten in der Nacht im russischen Winter kamen die Familien an. Manche, etwa die an der Entwicklung der deutschen Militärrakete V2 beteiligt waren, wurden nach Moskau gebracht. Die Familien in Upravlentscheskiy kamen in Holzhütten und Steinhäuschen unter. Die Wittkes hatten zu sechst zwei Zimmer. Bewegen durften sie sich nur im Umkreis des Dorfs, das sie Upra nennen. „Es hieß, zu unserem Schutz“, sagt Wittke. Die russische Bevölkerung war schlecht auf Deutsche zu sprechen.

Im Großen und Ganzen wurden die Deutschen aber besser als ihre russischen Kollegen gestellt, findet Milchteine. Es gab eine deutsche Schule, Musikkapellen, Sportvereine. „Uns Kindern ging es gar nicht so schlecht“, sagt Wittke. „Ich erinnere mich an wunderbare Sommerferien an der Wolga.“ Und aus feindlich gesinnten Altersgenossen wurden im Laufe der Jahre Freunde.

Aber es gab auch den Schuster, der als vermeintlicher Triebwerksexperte nach Upra kam und sich mühsam über Wasser halten musste. Und es gab die Angst der Eltern, nicht mehr heimzukommen oder bei einem Fehler im Straflager in Sibirien zu enden. Wittke erzählt von einem Jungen, der versuchte zu fliehen, verurteilt wurde und in Russland blieb und von Selbstmorden Verzweifelter, die mit der Situation nicht fertig wurden. Auch russische Spezialisten hungerten. Sie verdienten weniger als manche Deutschen, hatten aber Vorteile, wenn sie deutsch lernten, um den Kollegen Wissen ablauschen zu können, sagt Milchteine.

In dieser Atmosphäre sollte das Büro unter Leitung von Nikolaj Kuznetzov Triebwerke für ein viermotoriges Tupolev-Flugzeug bauen. In nur vier Jahren habe das Team auf der Basis eines Junkers-Triebwerks einen Turboprop-Motor entwickelt, der bis heute in der Langstreckenluftfahrt genutzt wird. Es folgte das Triebwerk für das Überschallflugzeug Tupolev TU-144, das zwei Monate vor der ähnlichen französisch-britischen Concorde startete. Das beförderte den Ruf von Kuznetzovs Büro. Und auch Milchteines Karriere bekam Auftrieb. Er sei einer der ersten Doktoren in Russland, der sich mit Triebwerken befasste. Zwischen ihm, dem Juden, und den Deutschen habe es keine Berührungsängste gegeben. Anregend sei die Zusammenarbeit gewesen. „Wir arbeiteten begeistert an einem Problem und waren effektiv“, sagt er.

Das lenkte den Blick eines anderen Begeisterten auf Upra. Anfang der 1960er Jahre tauchte der geheimnisvolle Herr Sergejev auf, erzählt Milchteine: Sergei Koroljow, der in der sowjetischen Raumfahrt eine ähnliche Rolle spielte wie Wernher von Braun in den USA. Der Visionär verstand sich mit Kuznetzow. Das Büro bekam den Auftrag für ein Raketentriebwerk. Die meisten Deutschen waren in den Jahren nach dem Tod des sowjetischen Gewaltherrschers Josef Stalin 1953 heimgekehrt – nach Jahren des Müßiggangs, in denen sie die Lust am Forschen verlieren sollten. Sie waren nicht mehr dabei, als der Wettlauf zum Mond begann. Aber sie hatten ihr Wissen im Vorfeld beigetragen.

Eine Illustration aus Vernes Roman könnte das Bild der N1-Rakete sein, das Milchteine zeigt, und an deren Entwicklung er beteiligt war. Ein plumpes, tannenbaumförmiges, gut 100 Meter hohes Ding. 30 Flugzeugtriebwerke hatten Kuznetzows Leute schnell zum Raketenmotor kombiniert. Überhaupt ging es bei dem größten Kampf im Kalten Krieg im Osten handfest zu. Mitte der 1950er Jahre kam aus Moskau der Befehl: Mondlandung 1969. Im Februar 1969 startete die erste N1-Rakete, sagt Milchteine. Für ihn ist das der Beweis, was des Menschen Wille erreichen kann. Aber nicht nur das Ziel sei wichtig, auch der Ausgangspunkt. Und den setzte damals Koroljow kurzerhand fest. „Er sagte: 'Auf dem Mond sind fünf Zentimeter Staub, darunter ist er fest.'“, erzählt der Professor. „Man muss Grenzen haben, um was zu schaffen. Sonst dreht man sich im Kreis.“

Mitzuarbeiten an der größten Aufgabe der Menschheit könne euphorisch machen, sagt Milchteine. Doch für ihn seien die Einzelprobleme, die es zu lösen galt, wichtiger gewesen als große Visionen. Und der Druck. Anders als in den USA kontrollierten das sowjetische Mondprojekt nicht Wissenschaftler und Ingenieure, sondern das Politbüro. Es forderte Erfolge etwa zum Jahrestag der Oktoberrevolution oder Lenins Geburtstag. Zeit und Geld für Tests wurden gespart.

Die Amerikaner gewannen den Wettlauf. Neil Armstrong betrat am 21. Juli 1969 als erster Mensch den Mond. Raketentriebwerke explodierten allerdings auf beiden Seiten des Ozeans zu oft. „Wir waren in der Lage, dieses Problem als Erste zu lösen“, sagt Milchteine. Er machte es zum Thema seiner zweiten Dissertation Mitte der 1970er Jahre. Damals hatte die sowjetische Regierung schon befohlen, das Mond-Programm abzubrechen.

Ins All fliegt mit N1-Triebwerken nun der einstige Erzfeind. Die Motoren lagerten in Schuppen und auf freiem Gelände in Upra. „Die Vögel schissen darauf“, sagt Milchteine. 1994 wurden die Amerikaner auf die robusten, kostengünstigen Triebwerke aufmerksam, kauften drei, um sie gründlich zu testen und angetan von den zuverlässigen Motoren Dutzende weitere zu ordern. Die Trägerrakete Antares startet damit im Februar zur internationalen Raumstation ISS.

Joseph Milchteine befasste sich mit Ölförderung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Weil er für seine kranke Frau bessere Therapien erhoffte, zog er 2000 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Mit der Raumfahrt hatte er abgeschlossen – bis er bei Professor Sergio Montenegro anklopfte.

Vortrag an der Uni

Seine Geschichte von russischen Mondraketen, Luft- und Raumfahrtprogramm der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt Prof. Joseph Milchteine am Montag, 21. Januar, ab 17 Uhr beim Informatik-Kolloquium im Turing-Hörsaal im Informatikgebäude der Würzburger Universität am Hubland.

Er berichtet von Persönlichkeiten, die ihm in dem Konstruktionsbetrieb in Upravlentscheskiy bei Samara begegneten, von technischen Details der Flugzeug- und Raketentriebwerke und lässt ein Gefühl für die Atmosphäre entstehen, die in dem Dorf herrschte, als dort deutsche Triebwerksspezialisten als lebendige Reparationszahlungen ihr Wissen in sowjetische Entwicklungen fließen lassen mussten.

Raumfahrtpionier: Joseph Milchteine
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