Der Tod ist nichts Abstraktes, sondern immer überaus konkret. In dem Jahr, in dem der hessische CDU-Abgeordnete Michael Brand auf die Welt kam, erfuhr sein Vater, dass er an Krebs erkrankt sei und nur noch kurze Zeit zu leben habe. „Krankheit und Tod waren zu Hause immer mit am Tisch“, sagt er. Der Vater von Petra Sitte, der parlamentarischen Geschäftsführerin der Linksfraktion aus Sachsen-Anhalt, litt an starken Rückenschmerzen, fortschreitendem Alzheimer und Taubheit. „Die Medikamente verlängerten nur das Leid“, sagt sie. Voller Verzweiflung verweigerte er am Ende die Nahrungs- und Medikamentenaufnahme und starb einen qualvollen Tod. „Diese Ohnmacht und Hilflosigkeit soll niemand erleben müssen.“
Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, war 18 Jahre alt, als sie entscheiden musste, die Geräte abzuschalten, „das heißt das Leben abzuschalten“. Für wen sie die folgenreiche Entscheidung treffen musste, sagte sie nicht. Aber sie wisse daher, „dass es Situationen gibt, wo die Schmerzlinderung nicht mehr reicht“. Emmi Zeulner von der CSU spricht vom Tod ihrer Eltern, Matthias Birkwald von den Linken von seinem Bruder, der mit 47 Jahren an einem Hirntumor starb. Es sind Worte, die man im Bundestag selten hört. Schilderungen, die im weiten Rund des Plenarsaals Betroffenheit auslösen und für eine ungewöhnliche Stille sorgen. Mehr als viereinhalb Stunden nehmen sich die Abgeordneten am Donnerstag Zeit, um eine ungewöhnliche Debatte zum Thema Sterbebegleitung zu führen, sehr ernst und nachdenklich, oft persönlich und emotional, nie schrill oder verletzend. Zwischenrufe oder Interventionen, sonst die Regel, gibt es nicht.
Ungewöhnlich ist schon die Dauer, ebenso die Zahl von 48 Rednern, zudem die Tatsache, dass es weder Gesetzentwürfe noch Entschließungsanträge gibt und die sonst so starren Grenzen zwischen den Fraktionen sowie zwischen Regierung und Opposition aufgehoben sind.
„Orientierungsdebatte“ nennt sich die außergewöhnliche Beschäftigung mit dem Thema Leben und Tod, sie soll einen einjährigen intensiven Beratungsprozess einleiten, um das Problem der begleiteten Sterbehilfe zu regeln. Im Februar oder März sollen verschiedene Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht werden, danach finden die Beratungen in den Ausschüssen statt, im Herbst könnte dann endgültig entschieden werden. Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) nennt dies das „vielleicht anspruchsvollste Projekt dieser Legislaturperiode“.
In der Debatte werden die unterschiedlichen Positionen sichtbar – aber auch Gemeinsamkeiten. Niemand fordert die aktive Sterbehilfe, also die Erlaubnis zur gezielten Tötung auf Verlangen, keine Mehrheit gibt es auch für ein absolutes Verbot der Beihilfe zum Suizid. Breiter Konsens herrscht, die Palliativmedizin in Deutschland auszubauen und die Zahl der Hospizplätze deutlich zu erhöhen. Doch der Nachholbedarf ist gewaltig, geben mehrere Redner zu.
Beklagt werden auch die zum Teil unwürdigen Verhältnisse in Pflegeheimen. „Es fehlt an Platz für Demente und ihre Angehörige“, klagt Katrin Göring-Eckardt. Wer an Depressionen leide, warte derzeit ein halbes Jahr auf einen Termin beim Therapeuten. Dabei sei bekannt, dass rund 90 Prozent aller, die ihrem Leben ein Ende setzten, an psychischen Krankheiten leiden würden.
Eine Mehrheit zeichnet sich in der Frage ab, organisierte Sterbehilfevereine und professionelle Sterbehelfer zu verbieten. „Wir werden dafür sorgen, dass diesen Laien das Handwerk gelegt wird“, sagt Carola Reimann von der SPD. Daraus ergebe sich allerdings die Notwendigkeit, die Rolle der Ärzte zu stärken, um die Betroffenen nicht alleine zu lassen. Eine Gruppe um Reimann und den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach sowie Peter Hintze, Katherina Reiche und Dagmar Wöhrl von CDU und CSU fordert daher, die ärztliche Beihilfe zum Suizid ausdrücklich zu erlauben und den bestehenden Flickenteppich im ärztlichen Standesrecht zu beseitigen.
Derzeit ist es in zehn Bundesländern den Ärzten verboten, ihren Patienten beim Suizid zu assistieren, ihnen droht der Entzug der Zulassung, in anderen Bundesländern dagegen nicht. „Der Arzt soll beim friedlichen Einschlafen helfen dürfen“, fordert Hintze, „aus dem Schutz des Lebens darf keine Pflicht zum Qualtod werden.“ Man wolle Rechtssicherheit für die Ärzte und eine bundesweit einheitliche Regelung. Das allerdings stößt vor allem in der Union auf massiven Widerstand. „Wir dürfen keine Tür öffnen, die wir hinterher nicht mehr zubekommen“, warnt der CDU-Abgeordnete Michael Brand, der ärztlich begleitete Suizid dürfe „nicht die Regel werden“. Gesundheitsminister Hermann Gröhe hält nichts von einer „Verklärung der Selbsttötung“, aus dem Einzelfall drohe die Norm zu werden. Und der frühere Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, sorgt sich vor Verhältnissen wie im US-Bundesstaat Oregon, wo der ärztlich assistierte Suizid in jedem Fall von der Kasse bezahlt werde, aber alles andere rationiert worden sei. „Es wird gefährlich, wenn wir den Arzt zum Sterbehelfer machen.“
Dagegen plädiert eine Gruppe um die frühere Grünen-Fraktionschefin Renate Künast dafür, nichts zu verändern und auch die Sterbehilfevereine weiter zuzulassen. Es gebe keine Zahlen, die belegten, dass dadurch die Suizidrate steige. Menschen, die selbstbestimmt leben, sollten auch selbstbestimmt über ihr Ende entscheiden dürfen. Und der Linke Matthias Birkwald argumentiert: „Im Grundgesetz ist ein Recht auf Leben verankert, aber keine Pflicht zum Leben.“ So wie es einen Anspruch auf Erste Hilfe gebe, müsse es auch einen auf „Letzte Hilfe“ geben. Denn: „Mein Leben gehört mir.“