Vitali Klitschko pendelt zwischen Weltmeisterschaftskämpfen und Wahlkampf hin und her. Der 40-jährige Ukrainer ist nicht nur ein außergewöhnlicher Boxer, sondern auch ein ambitionierter Politiker. Denn der Zwei-Meter-Hüne ist Weltmeister im Schwergewicht ebenso wie Vorsitzender der von ihm gegründeten Partei UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen). Ab diesem Wochenende intensiviert er die Vorbereitungen auf die Titelverteidigung gegen den Engländer Dereck Chisora am 18. Februar in der Münchner Olympiahalle. Von einer Sportschule in Kiew kommt der Champion zusammen mit Coach Fritz Sdunek ins Trainingscamp beim „Stanglwirt“ in Going, Tirol.
Der ältere der beiden Klitschko-Brüder hat sich wie im Sport auch in der Politik das höchste Ziel gesetzt. 2015 wählt die Ukraine ihren Präsidenten. Wenn nicht er, wer sonst – so sieht er seine Mission – könnte im flächengrößten Land Europas für dringend notwendige politische und gesellschaftliche Veränderungen sorgen? „Ich möchte nicht im 20. Jahr der Unabhängigkeit in der Ukraine gleiche Zustände wie in Weißrussland erleben.“ Seine Kandidatur hat Klitschko zwar noch nicht offen bekanntgegeben. „Jetzt darüber zu sprechen, wäre viel zu früh. Erst muss unsere Partei die Unterstützung des Volkes haben“, sagt er. Aber sein Verhalten außerhalb des Rings lässt keinen Zweifel daran. So hat er die Boxhandschuhe schon mal kurz ausgezogen und dem autoritären Staatschef Viktor Janukowitsch (61) den Fehdehandschuh hingeworfen.
Das war im August letzten Jahres, als die Oppositionspolitikerin und ehemalige Ministerpräsidentin Julija Timoschenko verhaftet wurde. Vitali Klitschko unterbrach seine Vorbereitung in Tirol auf die Titelverteidigung gegen den Polen Tomasz Adamek im September, flog mit Fritz Sdunek nach Kiew, bot an, bei einer Freilassung für die Ikone der „Orangen Revolution“ von 2004 zu bürgen und richtete auf einer Pressekonferenz einen öffentlichen Appell an den Staatspräsidenten persönlich:
„Sehr geehrter Herr Präsident. Die Verhaftung von Vertretern der Opposition hat die Auseinandersetzung in der ukrainischen Gesellschaft äußerst zugespitzt. Das führte zum inneren Konflikt und zur Instabilität im Lande. Das Gleichgewicht in der Gesellschaft und in der Politik wurde gebrochen . . . Der Kurs auf eine ferne europäische Integration ist in Gefahr geraten. Wir stehen kurz vor der internationalen Isolation . . . Ich bin überzeugt, der erste Schritt zur Wiederherstellung der inneren Stabilität und des Vertrauens der Weltgemeinschaft sollte die Entlassung der ehemaligen Premierministerin aus der Haft sein . . . Heute müssen Sie das Land auf den europäischen Weg der Entwicklung zurückführen. Morgen wird es zu spät sein.“
Verändert hat der Appell nichts. Timoschenko wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Vitali Klitschko aber ist, wie ihm zugetragen wurde, seitdem von Janukowitsch als „gefährlich“ eingestuft worden. Mit dem Vorwurf, die Politik in der Ukraine werde von Oligarchen bestimmt, hat er die trotz Finanzkrise immer reicher werdenden Wirtschaftsbosse gegen sich aufgebracht. Seit er im April 2010 als Nachfolgerin des „Vitali Klitschko Blocks“ die UDAR gründete, ist der Parteivorsitzende ständig unterwegs, um politische Erfahrungen zu sammeln. Er hat Jean-Claude Juncker, den luxemburgischen Premierminister und Vorsitzenden der Euro-Gruppe, getroffen und „über unser Ziel, aus der Ukraine ein modernes Land zu machen“, gesprochen. Der frühere US-Präsident Bill Clinton hat ihm den Leitfaden für die politische Rede erklärt: „Du musst die Message klar und einfach zu den Menschen bringen. Sehr viele Politiker sprechen so kompliziert, dass ein normaler Mensch sie nicht mehr versteht.“
Auf dem CDU-Parteitag am 24. November 2011 in Leipzig traf der Boxhüne als „special guest“ Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die UDAR ist Schwesterpartei der CDU und wird von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt. Begleitet wurde der Parteichef vom zweiten Vorsitzenden Vitali Kowaltschuk und Maria Ionowa, die dem Amt für internationale Beziehungen vorsteht. Beim Kongress der europäischen konservativen Volksparteien am 7. Dezember 2011 in Marseille mit den Regierungschefs Angela Merkel und Nikolai Sarkozy hörte der strikt westlich orientierte Politneuling aus der Ukraine aufmerksam zu und knüpfte Kontakte.
Zwischen derlei deutschen und europäischen Gipfeln braust Vitali Klitschko mit einem Konvoi aus drei, vier schwarzen, nicht gepanzerten Limousinen auf Wahlkampftournee durch die Ukraine. Bis in die entferntesten Winkel. Im Oktober 2012 sind Parlamentswahlen. Schon jetzt will Klitschko, der die UDAR-Fraktion im Kiewer Stadtrat führt, vor allem im Osten und Süden den Menschen Botschaft und Programm vermitteln: europäische demokratische Werte, Integration in die moderne Entwicklung der Welt, soziale Reformen. In sieben Ostdistrikten mit Donezk als Janukowitschs Heimatstadt und Hochburg sowie in Odessa ist die UDAR noch nicht in regionalen Parlamenten vertreten.
Der charismatische Kosmopolit fasziniert. Die Leser der Zeitung „Tochka“ wählten Vitali Klitschko in einer Umfrage zur Nummer eins unter den 100 populärsten und einflussreichsten Persönlichkeiten Kiews, in seiner Heimat ist er ein Volksheld. Die Menschen strömen in Massen – freilich weniger, um seine Wahlreden zu hören, sondern um ihn zu sehen, seine Unterschrift oder ein Foto mit ihm zu bekommen. Da werden Wahlveranstaltungen schon mal zu Autogrammstunden. „Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob du als populärer Sportler oder als professioneller Politiker vor die Menschen trittst“, sagt Klitschko. Dennoch: Über 10 000, meist junge Mitglieder, davon fast 2000 aktive Mitarbeiter im ganzen Land, zählt die UDAR bereits. Sie ist nach den Kommunalwahlen im Oktober 2010 in 15 der 24 Regionalparlamente mit über 400 Abgeordneten vertreten. In vier Städten stellt die Klitschko-Partei den Bürgermeister. Nach jüngsten Umfragen liegt die UDAR unter den etablierten Parteien an vierter Stelle. Übrigens: Wladimir ist noch kein Parteimitglied.
Die Parteizentrale ist in einem schlichten Flachbau am Rande der Stadt untergebracht. Der UDAR-Chef hat sein voluminöses Büro im modernsten Business Center Kiews, „Parus“ (Segel) genannt, weil der 156 Meter hohe Glasturm an die Form eines vom Wind geblähten Segels erinnert. Im sechsten der 34 Stockwerke residiert die „Klitschko Brothers Foundation“, die sich sozial für Kinder, Jugendliche und Studenten in der Ukraine engagiert. Der Champion wohnt in Kiew in einem 1901 im Barockstil erbauten Haus. Das renovierte Gebäude in der Bohdana-Chmelnytzkoho-Straße steht gegenüber der Deutschen Botschaft. Bei einem Treffen mit Gerhard Schröder zeigte der damalige Staatspräsident Leonid Kutschma auf den schmucken Altbau: „Das Haus da drüben gehört Vitali Klitschko.“ Worauf der damalige Bundeskanzler bemerkt haben soll: „Das sieht man mal, was man mit Fäusten in Deutschland verdienen kann.“
Nebenbei ist Klitschko auch noch als sogenannter Botschafter dem ukrainischen Organisationskomitee für die Fußball-Europameisterschaft 2012 verbunden. Sein Bereich sind die „Volunteers“, die freiwilligen Helfer. Rund 20 000 Bewerber gibt es – so viele wie noch bei keiner EM. Der Klitschko-Effekt. Nicht zu vergessen: Der Vielbeschäftigte boxt ja auch noch. Mit David Haye wird über einen Termin im Sommer verhandelt. Die fünf Wochen Trainingscamp beim „Stangl-wirt“ seien für ihn „reiner Urlaub“, Labsal für Kopf und Körper. Hartes Boxtraining als Erholung vom politischen Stress, sagt Klitschko. Schon wegen dieser komfortablen Wellness am Wilden Kaiser wird der 40-Jährige seine Karriere „von Kampf zu Kampf“ fortsetzen: „Ich kann völlig abschalten vom politischen Geschäft und mich ganz auf den Kampf konzentrieren.“
Vitali Klitschko
Seinen ersten WM-Titel als Profiboxer holte Vitali Klitschko (40) im Jahr 1999 in London gegen Herbie Hide. Nach einer Verletzung gab er 2005 seinen Rücktritt bekannt, kehrte jedoch im Oktober 2008 in den Boxring zurück und besiegte den WBC-Weltmeister Samuel Peter. Damit waren erstmals zwei Brüder gleichzeitig Schwergewichtsweltmeister, da auch Vitalis jüngerer Bruder Wladimir den WM-Gürtel eines konkurrierenden Verbandes besaß. In 43 Profikämpfen erlitt Vitali Klitschko nur zwei Niederlagen. Der Ukrainer lebt abwechselnd in Hamburg und Kiew, er ist mit seiner Frau Natalia seit 1996 verheiratet. Das Paar hat drei Kinder (11, 9, 6). Klitschko ist politisch sehr aktiv, 2006 trat er als Kandidat bei der Bürgermeisterwahl in Kiew an – und verlor knapp. Text: HS