Der Palast ist weg in Port-au-Prince. Kein einziger Stein ist mehr übrig von dem weißen Trümmerhaufen, der vor dem Erdbeben der noble Herrschaftssitz des Präsidenten war – und später dann mit den zusammengefalteten Stockwerken und den eingefallenen Seitenflügeln zum traurigen Symbol für den Zustand des zerstörten Landes wurde.
Der Zaun, der den steingewordenen Größenwahn der korrupten Diktatoren Haitis einst schützte, ist frisch gestrichen. Ein grünes Netz soll neugierige Blicke von der riesigen, leeren Fläche fernhalten. Schiebt man es zur Seite, sieht man nicht viel. Sattgrünen, kurz geschnittenen Rasen, der jeden Tag gewässert wird, ein paar Palmen und die Fahnenmasten, an dem die blau-rote Nationalflagge von Haiti weht. Sean Penn hat den Schutt wegschaffen lassen. Im Auftrag von Präsident Michel Martelly hat der Hollywood-Schauspieler, der seit der Katastrophe mit einer eigenen Stiftung in dem Karibikstaat hilft, aufgeräumt. Ob er es umsonst gemacht hat oder für eine „minimale Summe“, wie es heißt – man weiß es nicht. Wie so vieles in dem Land.
Schon am Flughafen von Port-au-Prince fällt auf, dass Haiti ein anderes Land geworden ist. Eine Band begrüßt mit karibischen Klängen die Gäste, die eine Hochglanzbroschüre in die Hand gedrückt bekommen. „Magic Haiti“ steht darauf, zu sehen ist das Foto einer türkisblauen Lagune – samt Wasserfall und fröhlichen Kindern. Als ob es hier Touristen gäbe. Die Straße, die in die Stadt hineinführt und die noch vor Monaten gesäumt war von zusammengeflickten Zelten, sieht aus wie frisch gefegt. Keine Trümmer mehr, kein Müll, keine Menschen.
Viele Straßen sind frisch geteert und die großen Plätze, auf denen die provisorischen Zelte und Wellblechverschläge der Obdachlosen standen, sind neu gestaltet. Oft sind sie in Nacht-und-Nebel-Aktionen geräumt worden, denn der Präsident will der Welt zeigen, dass sich etwas bewegt in seinem Land. 2011, ein Jahr nach dem Erdbeben, ist Michel Martelly, der ehemalige Sänger „Sweet Micky“, zum Staatschef gewählt worden. Die vielen Lastwagen und Baumaschinen, die in der Stadt präsent sind, gaben den Menschen lange das Gefühl, dass es vorangeht. Viel zu zäh, sagen inzwischen viele. Und sie sagen, dass sich Martelly – wie seine Vorgänger – mit dem Geld, das ins Land kommt, vor allem die eigenen Taschen vollstopft.
Vor den Grünanlagen gibt es jetzt Parkplätze, Sitzbänke und auf den frisch angesäten Rasenflächen das Schild „Betreten verboten“. Wer Geld hat – eine ganz schmale Oberschicht und die Ausländer – kann wieder gut leben in Port-au-Prince. In neuen Supermärkten findet man alles, was es in den USA auch gibt – zum dreifachen Preis. Schicke Hotels sind entstanden, in denen die Nacht bis zu 400 Dollar kostet – mit Bars, Restaurants und Airport-Shuttle.
Martelly hat die 6000 Hütten, die sich westlich des Reichenviertels Pétion-Ville den Steilhang hinaufziehen, in bunten Farben streichen lassen. Wasser, Strom oder eine Müllentsorgung gibt es aber immer noch nicht. Bauvorschriften schon, doch die meisten können es sich nicht leisten, erdbebensicher zu bauen. Deshalb bauen sie so wie vorher: mit Materialen, die jetzt dreimal so teuer sind, und mit Eisenteilen, die sie aus den Schutthaufen gezogen haben.
Anders ist es, wenn eine internationale Hilfsorganisation die Regie – und die Kosten – übernimmt. In Carrefour, eineinhalb Autostunden von Port-au-Prince entfernt, hat die Duisburger Kindernothilfe am vierten Jahrestag – dem 12. Januar – des Erdbebens die Schule St. François de Sales eingeweiht. Architekten aus Chile, wo die Erde häufig bebt und man deshalb Erfahrung hat mit erdbebensicherem Bauen, haben das moderne Gebäude entworfen. 1400 Kinder werden dort künftig in zwei Schichten unterrichtet. Die aufwendige Konstruktion hat 3,3 Millionen Euro gekostet. Ein Teil des steilen Geländes musste abgetragen werden für die 16 Klassenräume, den in Terrassen angelegten Pausenhof, für Fluchtwege und Sonnenkollektoren, für die Bibliothek, den Computerraum und das Chemielabor.
„Es ist ein wunderbares Gebäude geworden“, sagt die Schulleiterin, Schwester Gisele. Die „Kleinen Schwestern von St. Therese“ können sich vor Anmeldungen kaum retten. Und das, obwohl das Schulgeld etwa 50 Dollar pro Jahr kostet – viel Geld in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung von weniger als einem Dollar am Tag leben muss.
Schwester Gisele lag 2010 selbst unter dem Trümmerhaufen der alten Schule. Nach einer halben Stunde wurde sie gerettet. 150 Kinder, vier Lehrer und drei Mitschwestern kamen unter dem Betonberg um. Ein kleiner Friedhof erinnert unweit des neuen Gebäudes an die toten Kinder, Plastikblumen schmücken die Gräber. Die Schule ist jetzt eine der besten in Haiti, ein Vorzeigeprojekt, das alle internationalen pädagogischen Standards erfüllt.
Im Hafenviertel von Port-au-Prince dann wieder ein anderes Bild. Hier ist nur der Eisenmarkt schick. Der Mobilfunkriese Digicel hat das Kolonialgebäude von 1889 restaurieren lassen. In den rot und grün gestrichenen Markthallen verkaufen ein paar Künstler ihre Schnitzereien und Bilder und umwerben die wenigen Kunden. „Niemals würden wir dorthin gehen“, erzählen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft, „höchstens vorbeifahren.“
Auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes wird vor Reisen nach Haiti gewarnt: wegen Entführungen, Raubüberfällen, bewaffneten Banden und nur „eingeschränkt funktionsfähigen Sicherheitsorganen“.
Direkt neben dem bewachten Markt findet das normale Leben statt. Ein Alltag in Ruinen, in Müll und Dreck. Vor Häusern, die in Fragmenten aus der Erde ragen, zwischen verbogenen Eisenteilen und eingestürzten Wänden verkaufen die Händler Mangos, Bohnen, Reis, Batterien und Haargummis. Plötzlich ein Knall, ein Mündungsfeuer. Die ganze Straße kommt in Bewegung, die Menschen laufen in eine Richtung weg. Vielleicht war es ein Schuss, vielleicht nicht. Jeder bringt sich vorsichtshalber in Sicherheit.
Gewalt, Armut, Tristesse: Das ist die Realität der meisten Haitianer. Denn das Land ist heute gerade erst wieder da angekommen, wo es am Vorabend der Katastrophe war. 1,5 Millionen Menschen sind innerhalb von 37 Sekunden obdachlos geworden. Nach aktuellen Zahlen des Amtes zur Koordinierung der humanitären Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) leben heute noch 172 000 in Notunterkünften.
Viele haben die „Räumungsprämie“ in Höhe von umgerechnet etwa 350 Euro kassiert, die die Regierung in den vergangenen Monaten denjenigen zahlte, die freiwillig aus den Camps auszogen – und haben sich in einem der vielen Slums in eine Wellblechhütte eingemietet. Die 24-jährige Melody ist mit ihrem Baby Leon aus ihrem Dorf nach Port-au-Prince gegangen und hat eins der leerstehenden Zelte besetzt, auf dem mit roter Farbe „A déplacer“ gesprüht ist: „Zu entfernen.“ Sie erzählt, wie krank ihr Kind ist, und hofft darauf, dass ihr jemand Geld gibt. Oder ein Haus.
Andere haben Obdachlose aufgenommen und dafür ihr kaputtes Haus repariert bekommen. 60 Familien sind auf diese Weise für ein Jahr untergekommen, die von Fedilia Suffleurant ist eine davon. Jean Claude Deolus hat sich die Suffleurants in einem der Zeltlager ausgesucht, sie kommen aus einem kleinen Ort, drei Stunden entfernt. „Sie können gerne bleiben“, sagt Jean Claude Deolus. 500 US-Dollar will er dafür von der Familie pro Jahr haben. „Wenn sie nicht zahlen können, müssen sie ausziehen“, sagt er ungerührt.
Da also stecken die Millionen an Spendengeldern: in wiederaufgebauten Schulen, in reparierten Häusern, in Mieten – und in Holzhütten. Es sind „Temporary Shelters“, sogenannte Übergangshäuser, die die Hilfsorganisationen bis heute errichten. Drei bis sechs Jahre sollen sie halten. Für viele aber ist es keine Übergangs-, sondern eine Dauerlösung. „Eigentlich ist es Schwachsinn, vier Jahre nach dem Erdbeben immer noch Übergangshäuser zu bauen“, sagt Gregor Werth, Landeskoordinator der Hilfsorganisation Help. Doch die Nothilfe-Geldgeber wollen möglichst viele Häuser sehen.
Wie es weitergeht? Man weiß es nicht. Wie so vieles in diesem Land.
Das Beben in Haiti
Am 12. Januar 2010 bebte um 16.53 Uhr 37 Sekunden lang in Haiti die Erde. Mindestens 222 570 Menschen starben, darunter mehrere Minister, 18 000 Staatsangestellte, 450 Lehrer und Professoren sowie 5000 Studenten. 310 000 Menschen wurden verletzt, 1,5 Millionen obdachlos. 1300 Schulen und Unis stürzten ein. 285 000 Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Mit einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala – die achtfache Energie der Hiroshima-Bomben – war es das schwerste Beben in Amerika seit 200 Jahren und eine der größten Naturkatastrophen aller Zeiten. Der wirtschaftliche Schaden beträgt acht Milliarden US-Dollar (5,8 Milliarden Euro). Text: LM