Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland in vielerlei Hinsicht weiter ein gespaltenes Land. Und das gilt nicht nur in messbaren Bereichen wie Lohnniveau, Beschäftigung und Wirtschaftskraft, in denen der Osten weiter zurückliegt.
Christian Hirte, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, sieht bei Ost- und Westdeutschen erhebliche Unterschiede in der Gefühlslage. Abgehängt, als Bürger zweiter Klasse empfänden sich viele Menschen in den neuen Bundesländern.
Und sie hätten ihr Zutrauen in Staat und Politik scheinbar verloren, sagt er. Das dürfe der Politik nicht egal sein.
Erfreuliche wirtschaftliche Fortschritte würden im Moment von gesellschaftlichen Debatten überlagert. Rechtsextreme Ausschreitungen wie in Chemnitz und Köthen seien völlig inakzeptabel, so der CDU-Politiker aus Thüringen, doch dies gelte genauso für rechte Vorfälle in Kandel oder Dortmund.
In der Öffentlichkeit aber entstehe oft ein Zerrbild, der Osten werde ausschließlich als Problemfall betrachtet. „Die Stigmatisierung ganzer Regionen hilft kein Stück weiter“, sagt Hirte. Zu den Hauptursachen der im Osten verbreiteten Unzufriedenheit zählt Hirte auch die gravierenden Umbrucherfahrungen der Menschen nach dem Mauerfall. Für fast jeden habe diese Zeit eine vollständige Veränderung der Lebenswirklichkeit bedeutet – mit teils schmerzlichen Erfahrungen. „Nicht alles, was heute im Osten geschieht, können wir auf Fehler in der DDR zurückführen“, sagt Hirte. Auch die Umbrüche der 1990er Jahre müssten in den Blick genommen werden. Denn viele Menschen hätten „das Gefühl, mit ihren persönlichen Erfahrungen nicht genügend respektiert und wahrgenommen zu werden“.
In seinem Bericht zum Stand der Deutschen Einheit nennt Hirte die wirtschaftlichen Fortschritte im Osten „durchaus eindrucksvoll“. Seit der Wiedervereinigung habe sich die Wirtschaftsleistung mehr als verdoppelt, Ostdeutschland habe mit vielen Regionen etwa in Frankreich oder Großbritannien gleichgezogen. Doch noch immer beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner nur knapp 75 Prozent des Westniveaus. Die Arbeitslosigkeit ist mit 6,8 Prozent höher als im Westen der Republik, wo der Wert 4,8 Prozent beträgt.
Auch innerhalb Westdeutschlands gebe es schließlich große Unterschiede in der Wirtschaftskraft – etwa zwischen Schleswig-Holstein und Bayern, sagt Hirte. Und in Bayern sei die boomende Metropolregion München nicht mit dem strukturschwachen Bayerischen Wald vergleichbar. Das Ziel einer weiteren schnellen Angleichung aller Kennzahlen über die ganze Republik hinweg sei unrealistisch, sagt Hirte. Denn im Osten fehlten nicht nur wirtschaftlich starke Ballungszentren wie München, Stuttgart oder Frankfurt.
Auch die Wirtschaft insgesamt sei kleinteiliger, mehr von mittelständischen Strukturen geprägt. Weltkonzerne seien kaum vertreten, zumal nicht mit ihren Zentralen. Für gleiche Löhne und Gehälter könne die Bundesregierung wohl auch nicht sorgen, sie strebe aber flächendeckend gleichwertige Lebensverhältnisse an.