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WÜRZBURG
„Viele Bürger haben Angst um ihre Zukunft“
Das Gespräch führte Dieter Löffler
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:48 Uhr

Der frühere Abtprimas des Benediktinerordens, Notker Wolf (76), zeigt Verständnis für die Ängste der Menschen beim Thema Integrationspolitik. Zugleich unterscheidet er sehr genau zwischen Volksnähe und Populismus. Den Werteverfall in unserer säkularen Gesellschaft betrachtet der engagierte Kritiker mit Sorge.

Frage: 2016 war in Deutschland und in der Weltpolitik sicherlich kein leichtes Jahr. Rechnen Sie damit, dass es 2017 besser wird?

Notker Wolf: Keineswegs. Die Herausforderungen werden da sein. Wir wissen jetzt noch nicht, was das Jahr bringt, und vor allen Dingen, wie wir die vielen Zuwanderer integrieren. Wir reden von Integration, aber das ist ein langwieriger Prozess, den kann man nicht von heute auf morgen bewerkstelligen. Das ist nicht eine Unterrichtsfrage, sondern das ist ein Aneinandergewöhnen.

Wurden die Weichen in der Integrationspolitik 2016 richtig gestellt? Oder sehen Sie Fehler, die wir einmal bereuen werden?

Wolf: Hinterher sind wir immer alle schlauer. Trotzdem war mir von vornherein klar, dass die vielen Zuwanderer zu einem Problem werden. Es ist zwar schön, dass wir offen sind und andere willkommen heißen – wir sind ja auch froh, wenn wir anderswo gut aufgenommen werden.

Aber wir sind nun einmal mit anderen Mentalitäten konfrontiert. Wir müssen die Menschen, die zu uns kommen, herausfordern, damit sie irgendwann in der Lage sind, sich selber zu helfen. Sie dürfen nicht ewig bei uns am Tropf hängen. Ich frage mich, was tun die jungen Männer, die ohne Arbeit hier herumsitzen? Das ist etwas ganz Schlimmes.

Kann man sie denn so rasch für den Arbeitsmarkt qualifizieren?

Wolf: Sie müssen auf jeden Fall rascher an die Arbeit gebracht werden. Das ist nicht einfach, weil viele nichts gelernt haben, zumindest nicht das Nötige. Die Menschen müssen deshalb schnell in eine Ausbildung kommen und gleichzeitig unsere Sprache lernen. Daran führt kein Weg vorbei. Die Sprache ist die Brücke der Verständigung. Sie ist die Brücke, um mit anderen Menschen leben zu können.

Viele Bürger sorgen sich um die Sicherheit, erst recht nach dem Anschlag in Berlin oder nach dem Mord in Freiburg. Haben Sie für diese Sorgen Verständnis?

Wolf: Selbstverständlich. Ich rechne damit, dass immer wieder mal etwas passiert. Es sind ja nicht unbedingt nur Heilige, die zu uns kommen. Auch da waren wir, glaube ich, etwas blauäugig. Vielmehr kommt der normale Durchschnitt der Bevölkerung.

Darunter sind Menschen, die viel durchgemacht haben im Leben, die sich durchsetzen mussten. Wer die Sahara durchqueren muss und anschließend noch das Mittelmeer, der muss aus hartem Holz geschnitzt sein. Sonst überlebt er das nicht.

Nimmt die Politik die Sorgen der Menschen in dieser Frage ernst genug?

Wolf: Vielleicht jetzt. Vielleicht sind sie aufgewacht wegen der AfD. Ich hatte immer den Eindruck, unsere Politiker meinen, alles sei selbstverständlich. Wenn sie es einsehen, müsste es auch die Bevölkerung einsehen. Das ist nicht der Fall. Deshalb braucht es mehr Überzeugungsarbeit. In Bayern saßen die Politiker früher mit am Stammtisch, genauso wie die Pfarrer am Sonntag am Frühschoppen teilgenommen haben. Ein Pfarrer wusste früher, was los war in seiner Gemeinde.

Stammtisch? Wo sehen Sie die Grenze zwischen Volksnähe und Populismus?

Wolf: Populismus bedeutet Anbiederung ans Volk. Etwas ganz anderes ist es, das Volk und dessen Sorgen ernst zu nehmen. Wir können nicht leugnen, dass viele Bürger Angst um ihre Zukunft haben, vor allem im Osten unserer Republik.

Generell geht es unserer Gesellschaft aber doch nicht schlecht. Woher kommt der Hass, der sich auf Demonstrationen und im Internet austobt?

Wolf: Der Respekt vor den Mitmenschen ist verloren gegangen. Ich weiß nicht, ob wir noch genügend gebildet werden statt einfach nur ausgebildet. Wo werden uns denn wirklich Werte vermittelt? Je stärker der Glaube verloren geht an einen Gott, der die Ausrichtung für unser Leben darstellt, desto mehr bin ich auf mich selber gestellt und auf meinen eigenen Vorteil.

Sie beklagen den Verlust an christlichen Werten. Gerade bei den Pegida-Demonstrationen steht die Sorge um das christliche Abendland im Vordergrund. Was sagen Sie als katholischer Geistlicher dazu?

Wolf: Da haben Sie recht, ich finde das seltsam. Was diese Demonstranten unter christlichem Abendland verstehen, ist eine Worthülse. Da kommt nichts. „Christliches Abendland“ bedeutet so etwas wie Feindesliebe. Und so christlich war das Abendland übrigens auch nicht immer. Wir haben zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen, der 30-jährige Krieg war ein Religionskrieg.

Und die Angst vor der Islamisierung unseres Landes? Haben Sie dafür mehr Verständnis?

Wolf: Ich verstehe diese Angst, weil zu viele Muslime dieses Ziel bewusst auf ihre Fahne schreiben. Die Weltislamkonferenz hat schon in den 70er- und 80er-Jahren die Islamisierung Europas auf die Tagesordnung gesetzt – noch bevor die Flüchtlinge gekommen sind. Ich habe nie verstanden, dass das nicht gesehen wurde. Und mir fällt eines gerade wieder massiv auf: Wir beklagen uns über die Einschränkung der Religionsfreiheit in China. Zu Recht. Aber was ist mit der Religionsfreiheit in Saudi-Arabien?

Gegenfrage: Warum schweigen denn die Kirchen dazu? Man hat den Eindruck, sie finden sich damit ab, wenn in islamischen Ländern Christen verfolgt werden. Müssten sie nicht mehr bewirken und die Gesellschaft aufrütteln?

Wolf: Ich weiß nicht, ob die Kirchen heute noch diese Stärke in der Gesellschaft haben. Aber klar, sie müssen mehr den Finger auf diese Wunde legen. Und wir müssen lernen, zu unterscheiden. Ich war im März in Jordanien. Ich war erstaunt, wie tolerant es dort zugeht. Dort können sich die christlichen Kirchen entfalten. Im Mai war ich dann im Iran bei den Schiiten. Die waren sehr freundlich zu uns, aber dort herrschen andere Verhältnisse. Wir müssen schauen, wie wir unsere Botschaft innerhalb der einzelnen Gesellschaften verwirklichen können.

Wie erklären Sie sich, dass unsere Gesellschaft nicht deutlicher für ihre Werte einsteht, für die Freiheit, für Offenheit?

Wolf: Sobald es einem gut geht, wird man nachlässig. Das ist eine typische menschliche Haltung. Nach dem Krieg ist man in die Kirchen gerannt, damit der Herrgott einen Sack Kartoffeln schenkt. Sobald man satt ist, braucht man den Herrgott nicht mehr. Unsere Gesellschaft hat ihre Wurzeln vergessen. Auch wenn es ganz unmodern klingt: Für mich als Christ ist das Entscheidende, dass ich Gott als die absolute Norm ansehe. Vor ihm fühle ich mich verantwortlich.

Aber nicht jeder glaubt an Gott. Wir leben in einer weltlichen, säkularen Gesellschaft...

Wolf: Wenn eine Säkulargesellschaft an ihr Ende kommt, muss sie sich fragen, was die Ursachen sind. Ich sage, weil ihr die Substanz fehlt. Der Glaube an Gott ist in meinen Augen eine entscheidende Basis für Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit, für Barmherzigkeit statt Gnadenlosigkeit.

Nehmen wir die ganz normale sinnlose Alltagskriminalität. Da wird eine Frau ohne Grund eine Rolltreppe hinuntergestoßen, da wird ein Obdachloser angezündet. Was läuft da schief?

Wolf: Ich habe eine solche Entwicklung schon sehr lange vorausgesehen. Es sind beileibe nicht nur Ausländer oder Flüchtlinge, die sich so verhalten. Ich hatte eine deutsche Abiturientengruppe in Rom, die war nicht viel besser und hatte vor nichts Respekt. Wir pochen auf Menschenrechte, aber ich möchte auf die Menschenwürde pochen. Die Menschenrechte sind gesetzlich festgelegt. Aber die Menschenwürde ist eine ethische Frage. Ich kann sie nicht einklagen. Aber ich kann widersprechen, wenn sie verletzt wird, wenn ein anderer Mensch Schaden nimmt.

Wie lassen sich dieser Werte vermitteln, seien es Zuwanderer oder nicht?

Wolf: Diese Werte können nicht einfach doziert werden, man muss sie vorleben. Sie müssen erfahrbar werden. Früher hat man gesagt: Das tut man nicht. Das waren Tabus. Heute gibt es keine Tabus mehr. Jetzt sehen wir die Folgen. Ich bin überzeugt, dass sich jeder von uns irgendwo selber Tabus zulegen muss, auch weil wir schwache Menschen sind. Nicht die Wirtschaftsfähigkeit ist das entscheidende Kriterium für unsere jungen Leute, sondern die Lebensfähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein. Sie brauchen echte Selbstständigkeit, nicht Egoismus.

 
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