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BERLIN
Verpasste Kanzlermehrheit
Von unserem Korrespondenten Rudi Wais
 |  aktualisiert: 28.02.2012 19:19 Uhr

Die Politik ist ein schnelllebiges Geschäft – und ein vergessliches obendrein. Nachdem die Koalition bei der Abstimmung über das zweite Hilfspaket für Griechenland die sogenannte Kanzlermehrheit um sieben Stimmen verpasst hat, nimmt die Opposition die Vorlage nun dankend auf. Jürgen Trittin, der Fraktionschef der Grünen, spricht von einer schweren Niederlage für Angela Merkel und empfiehlt ihr, bei nächster Gelegenheit doch die Vertrauensfrage zu stellen – das schärfste Schwert, das ein Regierungschef hat, um seine Koalition zur Loyalität zu zwingen. Eines allerdings unterschlägt Trittin dabei generös: Auch die rot-grüne Regierung, deren Umweltminister er war, hat bei wichtigen Entscheidungen die Kanzlermehrheit verpasst. Und das gleich mehrfach.

Im August 2001, zum Beispiel, beschließt der Bundestag zwar mit großer Mehrheit den Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr. Doch obwohl der damalige Fraktionschef der SPD, Peter Struck, aufmüpfigen Abgeordneten mit aussichtslosen Listenplätzen für die nächste Wahl droht, stimmen 19 Genossen und fünf Grüne gegen die Mission. Zwei Jahre später wiederholt sich das gleiche Szenario bei der Gesundheitsreform: Die Union trägt sie mit, aus dem rot-grünen Regierungslager aber votieren lediglich 243 Abgeordnete dafür. Die Kanzlermehrheit allerdings liegt damals bei 302 Stimmen. Selbst bei der Einführung von Hartz IV, der wichtigsten Sozialreform der jüngeren Geschichte, patzt Rot-Grün: Zwölf Abgeordnete der Koalition lehnen das Gesetzespaket ab, das nur mit Hilfe der Union in Kraft treten kann. Den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder kümmert das nicht. „Mehrheit ist Mehrheit“, sagt er.

So oder so ähnlich argumentieren nun auch Konservative und Liberale. „Wir haben eine breite Mehrheit“, wehrt Gerda Hasselfeldt ab, die Landesgruppenchefin der CSU. „Dass die Opposition uns zur Hilfe kommen muss, ist Quatsch“, sekundiert Peter Altmaier, der Geschäftsführer der Unionsfraktion. Da der Bundestag am Montag nicht komplett war, hätten schon die 304 Stimmen von Union und FDP genügt, um die neuen Finanzhilfen für Griechenland zu beschließen. Auf die 192 Ja-Stimmen von SPD und Grünen wäre es so gesehen nicht angekommen.

Streng genommen ist die Kanzlermehrheit, also die absolute Mehrheit der Mandate im Bundestag, nur zur Wahl oder Abwahl des Regierungschefs nötig. Opposition und Medien allerdings legen die Latte gerne etwas höher. Für sie hat die Kanzlermehrheit eher symbolische als praktische Bedeutung: Als Indiz für die Geschlossenheit einer Koalition. Angela Merkel, sagt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles deshalb, „hat ihre Regierung nicht mehr im Griff“.

Der Grüne Volker Beck spricht gar von einem Abstimmungsdebakel – was die Kanzlerin allerdings kaum beunruhigen dürfte. Sie kennt das Spiel ja. Als Rot-Grün vor knapp elf Jahren zum ersten Mal die Kanzlermehrheit verpasste, war es die CDU-Vorsitzende Merkel, die kein gutes Haar an Schröders Koalition ließ.

 
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