
Die Indizien mehren sich. Und die Beweise häufen sich. Der 24-jährige Tunesier Anis Amri, der als mutmaßlicher Attentäter von Berlin mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wird, hat nicht nur seine Geldbörse mit seinen Duldungspapieren im Fahrerhaus des Sattelschleppers verloren, mit dem er am Montagabend in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche raste und dabei zwölf Menschen tötete, sondern dabei auch seine Fingerabdrücke an der Fahrertür und am Lenkrad des Lkw hinterlassen. Wie am Donnerstag aus Ermittlerkreisen bekannt wurde, fanden sich entsprechende Spuren an dem Tatfahrzeug, die eindeutig Amris zuzuordnen seien.
100 000 Euro Belohnung
Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt hatten ihn am Mittwoch europaweit als dringend tatverdächtig öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben und 100 000 Euro als Belohnung ausgesetzt. In Tunesien wurden Verwandte des 24-Jährigen befragt, die in der nordöstlichen Provinz Kairouan leben, die als Salafisten-Hochburg bekannt ist.
Schon in seiner Heimat saß er wegen des Diebstahls eines Lastwagens im Gefängnis, doch ihm gelang die Flucht nach Italien. Dort saß er ebenfalls im Gefängnis. Im April 2015 reiste er nach Deutschland weiter, wo er sich als politisch verfolgter Ägypter ausgab. Da er allerdings so gut wie keine Angaben über die Art der Verfolgung machen konnte, wurde der Antrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Wegen fehlender gültiger Papiere war eine Abschiebung nicht möglich, die tunesischen Behörden weigerten sich, ihn als Bürger ihres Staates anzuerkennen. Daher erhielt er vom Kreis Kleve eine Duldung.
168 000 Ausreisepflichtige
Nach dem Ausländerrecht stellt eine Duldung lediglich eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ von ausreisepflichtigen Ausländern dar. Sie begründet keinen rechtmäßigen Aufenthalt, sondern bescheinigt dem Ausländer lediglich, dass er bei den Behörden registriert ist und dass von einer Durchsetzung der bestehenden Ausreisepflicht abgesehen wird.
Die Gründe können vielfältig sein: fehlende Papiere, Krankheit, Schwangerschaft, Krieg im Herkunftsland oder auch fehlende Flugverbindungen wie zum Beispiel nach Somalia. In den ersten drei Monaten besteht ein Arbeitsverbot, danach kann mit Zustimmung der Agentur für Arbeit ein Job angenommen werden. Inhaber einer Duldung dürfen sich nur in ihrem Bundesland aufhalten (Residenzpflicht), zudem haben sie keinen Anspruch auf Hartz IV oder Sozialhilfe, sondern nur auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
In Deutschland leben derzeit nach offiziellen Angaben 168 000 Menschen, die eigentlich ausreisepflichtig wären, zwei Drittel sind Männer. Die meisten stammen aus Serbien und Afghanistan, es folgen Kosovo, Syrien und Albanien. Experten gehen davon aus, dass ihre Zahl im kommenden Jahr auf rund eine halbe Million ansteigen könnte, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) alle bislang noch unbearbeiteten Anträge abgearbeitet hat.
Rückkehrprogramme
Mit speziellen Rückkehrprogrammen haben sowohl der Bund als auch die Länder finanzielle Anreize zu einer freiwilligen Ausreise geschaffen. Die Behörden übernehmen nicht nur die Kosten für die Reise, sondern stellen auch Geld bereit, um ihren Neuanfang im Heimatland zu erleichtern. Bis zum 1. Dezember wurden 51 243 Anträge zur Förderung der freiwilligen Rückkehr bewilligt, deutlich mehr als im Vorjahr, als es rund 35 000 waren. Gleichzeitig erreichte auch die Zahl der Abschiebungen einen neuen Höchststand. In den ersten elf Monaten des Jahres wurden 23 750 Ausländer, deren Antrag auf Asyl abgelehnt worden war, in ihre Heimatländer zurückgebracht, im ganzen Jahr 2015 waren es 20 888.
Anis Amri war den Sicherheitsbehörden auch als „Gefährder“ bekannt, also als radikaler Islamist, von dem angenommen werden kann, dass er Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnte. Schon vor Monaten fiel er den Behörden durch Äußerungen auf, wie nach einem Bericht des „Spiegel“ bei Ermittlungen gegen mehrere Hassprediger bekannt wurde. So habe er sich in einem Telefongespräch als Selbstmordattentäter angeboten, ein anderes Mal erkundigte er sich, wie man Waffen beschaffen könne.
Allerdings seien die Äußerungen so verklausuliert gewesen, dass sie nicht für eine Festnahme gereicht hätten, hieß es.
Radikale Salafisten
Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes gibt es in Deutschland 530 islamistische Gefährder, 2010 waren es noch 120. Von den 4,4 bis 4,7 Millionen Muslimen, die in Deutschland leben, gehören 8350 radikalen salafistischen Gruppen an, die Zahl der extremistischen Anhänger der „Milli-Görüs“-Bewegung wird auf etwa 10 000 geschätzt. Zum Vergleich: Knapp 27 000 Bundesbürger gelten als linksextrem, davon sind 7700 gewaltbereit, 22 600 Deutsche werden dem rechtsextremen Lager zugerechnet, davon gelten 11 800 als gewaltbereit.