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BERLIN
Verfassungsschutz geht von 530 Gefährdern aus
Pierre Vogel       -  Der ultrakonservative Prediger Pierre Vogel gilt als einer der bekanntesten Salafisten in Deutschland.
Foto: Uli Deck, dpa | Der ultrakonservative Prediger Pierre Vogel gilt als einer der bekanntesten Salafisten in Deutschland.
Martin Ferber
Martin Ferber
 |  aktualisiert: 01.01.2017 03:35 Uhr

Die Indizien mehren sich. Und die Beweise häufen sich. Der 24-jährige Tunesier Anis Amri, der als mutmaßlicher Attentäter von Berlin mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wird, hat nicht nur seine Geldbörse mit seinen Duldungspapieren im Fahrerhaus des Sattelschleppers verloren, mit dem er am Montagabend in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche raste und dabei zwölf Menschen tötete, sondern dabei auch seine Fingerabdrücke an der Fahrertür und am Lenkrad des Lkw hinterlassen. Wie am Donnerstag aus Ermittlerkreisen bekannt wurde, fanden sich entsprechende Spuren an dem Tatfahrzeug, die eindeutig Amris zuzuordnen seien.

100 000 Euro Belohnung

Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt hatten ihn am Mittwoch europaweit als dringend tatverdächtig öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben und 100 000 Euro als Belohnung ausgesetzt. In Tunesien wurden Verwandte des 24-Jährigen befragt, die in der nordöstlichen Provinz Kairouan leben, die als Salafisten-Hochburg bekannt ist.

Schon in seiner Heimat saß er wegen des Diebstahls eines Lastwagens im Gefängnis, doch ihm gelang die Flucht nach Italien. Dort saß er ebenfalls im Gefängnis. Im April 2015 reiste er nach Deutschland weiter, wo er sich als politisch verfolgter Ägypter ausgab. Da er allerdings so gut wie keine Angaben über die Art der Verfolgung machen konnte, wurde der Antrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Wegen fehlender gültiger Papiere war eine Abschiebung nicht möglich, die tunesischen Behörden weigerten sich, ihn als Bürger ihres Staates anzuerkennen. Daher erhielt er vom Kreis Kleve eine Duldung.

168 000 Ausreisepflichtige

Nach dem Ausländerrecht stellt eine Duldung lediglich eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ von ausreisepflichtigen Ausländern dar. Sie begründet keinen rechtmäßigen Aufenthalt, sondern bescheinigt dem Ausländer lediglich, dass er bei den Behörden registriert ist und dass von einer Durchsetzung der bestehenden Ausreisepflicht abgesehen wird.

Die Gründe können vielfältig sein: fehlende Papiere, Krankheit, Schwangerschaft, Krieg im Herkunftsland oder auch fehlende Flugverbindungen wie zum Beispiel nach Somalia. In den ersten drei Monaten besteht ein Arbeitsverbot, danach kann mit Zustimmung der Agentur für Arbeit ein Job angenommen werden. Inhaber einer Duldung dürfen sich nur in ihrem Bundesland aufhalten (Residenzpflicht), zudem haben sie keinen Anspruch auf Hartz IV oder Sozialhilfe, sondern nur auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

In Deutschland leben derzeit nach offiziellen Angaben 168 000 Menschen, die eigentlich ausreisepflichtig wären, zwei Drittel sind Männer. Die meisten stammen aus Serbien und Afghanistan, es folgen Kosovo, Syrien und Albanien. Experten gehen davon aus, dass ihre Zahl im kommenden Jahr auf rund eine halbe Million ansteigen könnte, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) alle bislang noch unbearbeiteten Anträge abgearbeitet hat.

Rückkehrprogramme

Mit speziellen Rückkehrprogrammen haben sowohl der Bund als auch die Länder finanzielle Anreize zu einer freiwilligen Ausreise geschaffen. Die Behörden übernehmen nicht nur die Kosten für die Reise, sondern stellen auch Geld bereit, um ihren Neuanfang im Heimatland zu erleichtern. Bis zum 1. Dezember wurden 51 243 Anträge zur Förderung der freiwilligen Rückkehr bewilligt, deutlich mehr als im Vorjahr, als es rund 35 000 waren. Gleichzeitig erreichte auch die Zahl der Abschiebungen einen neuen Höchststand. In den ersten elf Monaten des Jahres wurden 23 750 Ausländer, deren Antrag auf Asyl abgelehnt worden war, in ihre Heimatländer zurückgebracht, im ganzen Jahr 2015 waren es 20 888.

Anis Amri war den Sicherheitsbehörden auch als „Gefährder“ bekannt, also als radikaler Islamist, von dem angenommen werden kann, dass er Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnte. Schon vor Monaten fiel er den Behörden durch Äußerungen auf, wie nach einem Bericht des „Spiegel“ bei Ermittlungen gegen mehrere Hassprediger bekannt wurde. So habe er sich in einem Telefongespräch als Selbstmordattentäter angeboten, ein anderes Mal erkundigte er sich, wie man Waffen beschaffen könne.

Allerdings seien die Äußerungen so verklausuliert gewesen, dass sie nicht für eine Festnahme gereicht hätten, hieß es.

Radikale Salafisten

Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes gibt es in Deutschland 530 islamistische Gefährder, 2010 waren es noch 120. Von den 4,4 bis 4,7 Millionen Muslimen, die in Deutschland leben, gehören 8350 radikalen salafistischen Gruppen an, die Zahl der extremistischen Anhänger der „Milli-Görüs“-Bewegung wird auf etwa 10 000 geschätzt. Zum Vergleich: Knapp 27 000 Bundesbürger gelten als linksextrem, davon sind 7700 gewaltbereit, 22 600 Deutsche werden dem rechtsextremen Lager zugerechnet, davon gelten 11 800 als gewaltbereit.

Wer macht was bei der Terrorfahndung?

In der Berichterstattung über die Terrorfahndung nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt tauchen immer wieder Begriffe aus Justiz und Recht auf. Ein Glossar: Der Generalbundesanwalt leitet die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Er und seine Mitarbeiter sind Staatsanwälte, die für die Verfolgung von Straftaten zuständig sind, die die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betreffen. Das heißt, es geht um Terror, Landesverrat, Spionage und Völkerstraftaten. Das Bundeskriminalamt ist eine Polizeibehörde des Bundes, die in bestimmten Fällen die Ermittlungen übernimmt. Etwa wenn es um Terror, internationalen Waffen- und Drogenhandel oder eine Geiselnahme im Ausland geht. Normalerweise ist Polizeiarbeit Ländersache. Mit einem Haftbefehl ordnet ein Richter an, dass jemand in Untersuchungshaft kommen soll, etwa weil Fluchtgefahr besteht. Auf dieser Grundlage wird jemand verhaftet. Aber auch ohne Haftbefehl ist eine vorläufige Festnahme möglich. Unter einem islamistischen Gefährder verstehen die Sicherheitsbehörden einen gewaltbereiten Islamisten. Derzeit trauen Polizei und Geheimdienste 549 Personen aus der Islamisten-Szene in Deutschland einen Terrorakt zu (Stand 21. Dezember 2016). Asylbewerber ist, wer Schutz vor politischer Verfolgung beantragt. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt Deutschland zudem jenen Schutz, die aus Kriegsgebieten fliehen. Wird im Asylverfahren festgestellt, dass ein Bewerber das Recht auf Flüchtlingsschutz hat, wird er als solcher anerkannt. Anders als im Asylrecht muss die Verfolgung nicht vom Staat ausgehen. Auch Syrer, die vor der Terrormiliz IS fliehen, genießen daher Schutz als Flüchtlinge. Wird der Antrag eines Asylbewerbers abgelehnt, muss er Deutschland verlassen. Tut er das nicht, droht ihm eine Abschiebung. Eine schwere Krankheit kann eine Abschiebung aber zum Beispiel verhindern. Mitunter weigern sich auch Herkunftsländer, jemanden wieder aufzunehmen – etwa, wenn bestimmte Dokumente fehlen. Der Betroffene wird dann in Deutschland geduldet. Das heißt, er bleibt verpflichtet, auszureisen. Sein Aufenthalt in Deutschland ist aber nicht strafbar. Außerdem dürfen Geduldete nach drei Monaten arbeiten. dpa
 
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