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ATHEN
Unheilige Allianz in Athen
Griechenland: Der neue griechische Regierungschef Alexis Tsipras schließt eine Koalition mit den ultranationalen „Unabhängigen Griechen“. Das Bündnis mit den Rechtspopulisten dürfte viele Wähler des Linksbündnisses Syriza vor den Kopf stoßen.
reda
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:10 Uhr

Alexis Tsipras macht Tempo, in Athen geht es Schlag auf Schlag: Noch vor der Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses der Parlamentswahl vom Sonntag erhielt der Linkspolitiker am Montagnachmittag von Staatspräsident Karolos Papoulias den Auftrag zur Regierungsbildung. Bereits am Montagmorgen hatte sich Tsipras mit der ultranationalen Partei Unabhängige Griechen (AE) auf die Bildung einer Koalition geeinigt. Am Montagnachmittag legte der 40-Jährige im Beisein des Staatsoberhaupts seinen Amtseid ab. Er ist der jüngste Regierungschef in der modernen Geschichte des Landes.

Als erster Ministerpräsident seit der Rückkehr Griechenlands zur Demokratie im Jahr 1974 leistete Tsipras seinen Eid ohne religiöse Formel. Kirchenvertreter nahmen an der Vereidigung, die traditionell vom Athener Erzbischof abgenommen wird, diesmal nicht teil. Ebenso symbolträchtig wie der Verzicht auf den Segen der Popen: Tsipras‘ erste Amtshandlung als Regierungschef war ein Gedenken an Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg.

Rolle des Königsmachers

Mit einem Stimmenanteil von 36,6 Prozent hatte das von Tsipras geführte Bündnis der radikalen Linken (Syriza) die Wahl klar vor der konservativen Nea Dimokratia gewonnen. Diese kam auf 27,8 Prozent. Die erhoffte absolute Mehrheit im neuen Parlament verfehlte Tsipras aber mit 149 Sitzen um zwei Mandate. Die benötigten Stimmen waren jedoch schnell gefunden.

Eigentlich heißt der Wahlsieger Alexis Tsipras. Aber am Montagmorgen stürmte in Athen plötzlich ein anderer Mann auf die politische Bühne, und er strahlte so, als hätte er die Wahl gewonnen. In gewisser Weise stimmt das auch, denn Panos Kammenos, der Chef der rechts-nationalistischen Partei Unabhängige Griechen (AE), ist jetzt in der Rolle des Königsmachers für Tsipras. Mit einem Stimmenanteil von 4,6 Prozent eroberte Kammenos 13 Mandate im neuen Parlament. Seine Freude darüber muss nicht nur deshalb besonders groß sein, weil in den vergangenen Wochen manche Demoskopen prognostiziert hatten, er werde an der Dreiprozent-Hürde scheitern. Die Unabhängigen Griechen schafften es nicht nur ins Parlament, sie sind nun sogar Juniorpartner in der künftigen, von Tsipras geführten Koalitionsregierung.

Der politische Schulterschluss des radikal-linken Bündnisses Syriza mit den Rechten mutet auf den ersten Blick merkwürdig an, macht aber aus Tsipras‘ Sicht durchaus Sinn. Nicht nur der Populismus ist ein gemeinsamer Nenner beider Parteien. Es gibt auch große politische Schnittmengen zwischen beiden Parteien, wie die Forderung nach einem massiven Schuldenschnitt, die Totalopposition gegen den Spar- und Reformkurs, eine tief sitzende Europa-Skepsis und nicht zuletzt die Fixierung auf das Feindbild Angela Merkel – Kammenos und Tsipras sehen in der deutschen Kanzlerin die treibende Kraft dessen, was viele Griechen als „Spardiktat“ empfinden.

Kammenos gehörte früher der konservativen Nea Dimokratia (ND) an, sagte sich aber vor drei Jahren von ihr los und gründete die Unabhängigen Griechen. In manchen Punkten gibt er sich weitaus radikaler als Tsipras. So will er den Schuldendienst einstellen. Der Syriza-Chef lehnt dagegen einseitige Schritte ab und setzt auf Verhandlungen mit den Gläubigern. Es gibt andere gravierende Differenzen zwischen beiden Parteien: Kammenos will illegale Einwanderer massenhaft deportieren. Tsipras hat sich dagegen für mehr Zuwanderung und eine Legalisierung von Migranten ausgesprochen. Kammenos gibt sich tief religiös, Tsipras hält dagegen große Distanz zur Kirche: Er lebt in einer kirchlich nicht anerkannten Lebenspartnerschaft und hat seine beiden Kinder nicht taufen lassen.

Wie das Bündnis der beiden ungleichen Partner Tsipras und Kammenos in der Praxis funktioniert, muss die Zukunft zeigen. Manche Beobachter in Athen hatten vor der Wahl über eine Regierungsbeteiligung der Mitte-Links-Partei „To Potami“ spekuliert. Aber in einer Koalition mit Potami-Chef Stavros Theodorakis hätte Tsipras wohl zu viele Abstriche machen müssen und den mächtigen linken Flügel seiner Syriza gegen sich aufgebracht. Theodorakis sagt: „Europa ist unser Haus, der Euro unsere Währung“. Er setzt auf Verhandlungen mit der Troika, um den Sparkurs zu korrigieren. Seine Bedingung für eine Koalition war ein klares Bekenntnis zum Euro. Dass Tsipras dazu offenbar nicht bereit war, ist kein gutes Omen für Griechenlands Zukunft in Europa. Sein Koalitionspartner Kammenos jedenfalls ist ein scharfer EU-Kritiker und Euro-Gegner.

Welche Rolle der 49-jährige Kammenos in der künftigen Regierung übernehmen wird, war zunächst unklar. An diesem Dienstag soll das neue Kabinett vereidigt werden. Tsipras hat eine drastisch verkleinerte Mannschaft angekündigt: Die Zahl der Ministerien will er von 18 auf zehn reduzieren. Als Favoriten für das Finanzministerium, einen Schlüsselposten, gelten der in England, Australien und den USA ausgebildete Ökonomieprofessor Yanis Varoufakis oder der Syriza-Wirtschaftsexperte Giannis Dragasakis.

Schulterschluss mit Ultranationalen

Nach seiner Vereidigung fuhr Tsipras in den Athener Arbeiterstadtteil Kesariani. Dort legte er am Schauplatz eines Nazi-Verbrechens einen Strauß aus drei roten Rosen nieder. Auf dem Schießplatz von Kesariani hatten deutsche Soldaten in den Besatzungsjahren 1942 bis 1944 etwa 600 griechische Widerstandskämpfer hingerichtet. Viele Bewohner von Kesariani begrüßten Tsipras mit Applaus, Sprechchören und „Bravo“-Rufen.

Mit der Kranzniederlegung in Kesariani wollte Tsipras wohl auch unterstreichen, dass nun das Thema griechischer Reparationsforderungen für die Besatzungsjahre auf die Tagesordnung kommt. In dieser Frage steht Tsipras in engem Schulterschluss mit seinem ultranationalen Koalitionspartner Kammenos.

Wie es in Griechenland weitergeht

Voraussichtlich am 6. Februar wird das am Sonntag neu gewählte griechische Parlament erstmals zusammenkommen. Es muss dann als Erstes da weitermachen, wo das alte aufgehört hat: mit der Wahl eines Staatspräsidenten. Die gescheiterte Präsidentenkür Ende Dezember war ja der Grund für die vorgezogene Parlamentswahl. Wer diesmal für das höchste Staatsamt kandidiert, ist noch nicht klar. Um gewählt zu werden, braucht ein Kandidat im ersten Wahlgang eine Dreifünftelmehrheit von 180 der 300 Stimmen. Kommt sie nicht zustande, ist im zweiten Wahlgang, der schon tags darauf stattfinden könnte, eine absolute Mehrheit von 151 Stimmen erforderlich. Wird auch sie verfehlt, reicht im dritten Durchgang die einfache Mehrheit. Damit wird die Präsidentenwahl spätestens am 14. Februar abgeschlossen sein.

Bis zum 10. Februar muss sich der designierte Premier Alexis Tsipras der Vertrauensabstimmung im neuen Parlament stellen. Dafür schreibt die Verfassung eine Frist von 15 Tagen vor, nachdem der neue Regierungschef vereidigt worden ist. Doch auch in Brüssel tickt eine Uhr: Ende Februar läuft das EU-Hilfsprogramm aus, das die Euro-Finanzminister im Dezember bereits um zwei Monate verlängert hatten, nachdem es der Vorgängerregierung nicht gelungen war, die Troika-Verhandlungen abzuschließen. Wird das Programm nicht erneut verlängert, verliert Athen nicht nur Hilfskredite von 7,2 Milliarden Euro, die 2014 fällig waren, aber wegen der offenen Troika-Prüfung bisher nicht ausgezahlt wurden. Auch zehn Milliarden Euro, die für die griechische Bankenrettung vorgesehen waren, aber nicht benötigt wurden, verfallen dann.

Schon im März muss der Athener Finanzminister für fällige Kredite und Zinsen 2,5 Milliarden Euro aufbringen, daher braucht Griechenland die Gelder dringend. Im Juli und August werden Zahlungen von weiteren 8,8 Milliarden fällig – Geld, das Griechenland nicht hat. Wenn das Hilfsprogramm Ende Februar ersatzlos ausläuft, könnte die Europäische Zentralbank überdies den griechischen Banken den Geldhahn zudrehen – was einen Zusammenbruch des Bankensystems bedeuten würde. Tsipras muss also die Troika-Prüfung möglichst rasch abschließen. Sein Problem: Er erkennt bisher die Troika nicht als Verhandlungspartner an und will auch das laufende Programm nicht verlängern. Versteift er sich darauf, könnte Griechenland schon Ende Februar in eine schwere Krise stürzen. Text: Gerd Höhler

 
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