Von wegen Leichtigkeit des Reisens. Von wegen „Geträumt, gebucht, erlebt“, wie es im Werbespruch der Lufthansa heißt. „Von den Ausfällen her . . .“ Karsten Luckow hält kurz inne und vollendet dann den Satz: „Es ist schlimmer geworden.“ Seine Familie, die es nicht in den Spanien-Urlaub geschafft hat. Die Schweizer Kollegen, die die Heimreise erst Stunden später und von einem anderen Flughafen antreten konnten. Er könnte die Liste fortführen, eine Liste voller Enttäuschungen, Ärger und Ratlosigkeit.
Luckow, kahl geschoren, schwarzer Anzug, sitzt auf einer Bank im Flughafen München. Es ist die Zeit, in der auf Deutschlands zweitgrößtem Airport der Teufel los ist, auch ohne Sicherheitspannen wie der am Samstag, die so viel Chaos ausgelöst hat. In den nächsten sechs Wochen sollen hier voraussichtlich mehr als 6,5 Millionen Reisende starten, landen oder umsteigen. Die Anzeigetafel zeigt 14.02 Uhr an, Karsten Luckow hat noch Zeit bis zum Abflug. Bis zu 20 Mal im Jahr ist er mit dem Flugzeug unterwegs. Meist geschäftlich, er arbeitet für einen Hersteller von Lagersystemen und ist in ganz Europa unterwegs. Entsprechend verbringt er viel Zeit auf Flughäfen. Dass ein Flieger ganz ausfällt, hat er nie selbst erleben müssen, nur immer bei anderen beobachtet. Aber in Sachen Verspätungen kann er sehr wohl mitreden. Und hat beispielsweise festgestellt: Je später am Tag der Abflug, desto unpünktlicher der Flieger.
„Geträumt, gebucht, erlebt“? Was viele Fluggäste derzeit an deutschen Flughäfen erleben, würden sie sich tatsächlich kaum träumen lassen. Denn die Realität sieht in diesem Jahr häufig so aus: Menschenmassen, die sich an Abfertigungsschaltern und vor den Sicherheitskontrollen drängen, übervolle Wartezonen, verärgerte Passagiere, die an den Serviceschaltern der Fluggesellschaften ihren Frust ablassen, weil ein Flug abgesagt wurde. Wie so oft in diesem Jahr. Nie war das Chaos an deutschen Flughäfen größer.
Nach Angaben des Flugrechte-Dienstleisters EU-Claim sind in diesem Jahr – die Münchner Fälle vom Wochenende mit eingerechnet – bereits mehr als 19 000 Flüge annulliert worden. So viele wie nie zuvor in Deutschland. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ist dies eine Steigerung um 67 Prozent. Über 5000 Flüge waren zudem drei Stunden und mehr verspätet. In diesen Fällen sind Fluggesellschaften nach EU-Recht verpflichtet, den Passagieren bis zu 600 Euro Entschädigung zu zahlen.
Gründe für das Chaos gibt es viele. Managementfehler, die Nachwirkungen der Air-Berlin-Pleite, ein übervoller Himmel über Europa, überlastete Sicherheitskontrollen, die komplizierte Flugsicherung. So gibt es nach wie vor 28 nationale Flugsicherungen, viele sind nicht auf dem neuesten technischen Stand. Das Projekt eines einheitlichen Luftraums über Europa gilt mittlerweile als gescheitert. Allein die streikfreudigen Lotsen in Frankreich legen regelmäßig einen Großteil des Urlauberverkehrs nach Westeuropa lahm. Und das Flugaufkommen wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Nach der Prognose der Europäischen Kommission wird sich die Zahl der Flüge bis 2035 verdoppeln. In Europa, aber auch weltweit.
Die Auswirkungen kennen Passagiere schon jetzt zu genüge. Fliegen hat schon mal mehr Spaß gemacht als in diesem Sommer. Betroffen sind Lufthansa-Kunden genauso wie beispielsweise Condor- oder Ryanair-Passagiere. Die irische Airline etwa musste pünktlich zum Ferienbeginn hunderte Flüge streichen, weil in mehreren Ländern Personal streikte. Die Auswirkungen waren auch an deutschen Flughäfen zu spüren. Jetzt stehen Streiks deutscher Ryanair-Piloten im Raum, die sich bei der Urabstimmung am Montag zu 96 Prozent für einen Arbeitskampf ausgesprochen haben. Eine Airline sticht in dem ganzen Durcheinander besonders heraus: Allein bei Eurowings, der Billigtochter von Lufthansa, sind in diesem Jahr laut EU-Claim 3115 Flüge von und nach Deutschland ausgefallen. Beschwerden sind im Internet zuhauf nachzulesen.
Auf dem Bewertungsportal Trustpilot etwa beschreibt Manuela Eßer die Odyssee ihrer Tochter: „... zuerst hieß es Verspätung, Verspätung ... stundenlang. Dann war klar, der Flug war überbucht, schon das ist eine Unverschämtheit!!! ...“ Doch die Tochter kam noch lange nicht nach Hause. Nach einer Hotelübernachtung bekam die junge Frau die Information, der Alternativflug gehe um 6 Uhr morgens. Sie wurde falsch eingecheckt. Der nächste Flug: „... in sieben Stunden oder in vier Tagen!!!“, schreibt Eßer. „Und ich warte hier auf mein Kind.“
Eurowings – und damit die Lufthansa – war die gefühlte Gewinnerin der Air-Berlin-Pleite vor einem Jahr. Die Günstig-Airline sicherte sich allein 78 Maschinen der Air-Berlin-Flotte. Allerdings verzögerte sich die Freigabe der Flieger durch das Luftfahrtbundesamt. Die Gesellschaft hatte sich rechtzeitig wertvolle Start- und Landerechte gesichert. Und dazu Flüge angeboten.
Nun, sagen Experten, gebe es zu wenig Maschinen und Mitarbeiter, um alle Strecken zuverlässig bedienen zu können. EU-Claim zufolge, das massenweise Flugdaten analysiert, müsste Eurowings allein für das erste Halbjahr 90 Millionen Euro an Entschädigungen zahlen, sollten die Passagiere diese tatsächlich einfordern. Eurowings-Vorstandschef Thorsten Dirks dagegen begründet gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit die notorische Unpünktlichkeit der Fluglinie mit „nicht beeinflussbaren Störfaktoren“. Hagelstürme und streikende Fluglotsen in Frankreich etwa.
Karsten Luckow, der Geschäftsmann am Münchner Airport, schaut auf seine Armbanduhr. Das Handy liegt griffbereit auf seinem Oberschenkel. Wieso er trotz des vielen Ärgers fliegt? Luckow lehnt sich zurück. Das sei eine Frage des Zeitmanagements, sagt er. „Heute München, morgen Düsseldorf, das ist mit dem Auto nicht machbar.“ Außerdem fehlten die Alternativen. „Ich bin kein Fan des ÖPNV“, sagt Luckow. „Das, was derzeit im Luftverkehr passiert, ist mir lieber als das, was bei der Bahn schon Tradition ist.“ Und er könne am Flughafen wenigstens noch arbeiten. Wenn der Flieger pünktlich ist, will er hier gleich noch ein Bewerbungsgespräch führen. „Der Bewerber kommt aus Österreich, ich bin aus Nordrhein-Westfalen. Näher kommen wir uns in nächster Zeit nicht.“
Fliegen, sagt er und kommt aufs Grundsätzliche zu sprechen, sei heute einfach nichts Besonderes mehr. Privat nicht und geschäftlich schon gar nicht. „Ich glaube nicht, dass sich jede Fluglinie einen Gefallen damit tut, mit Gewalt in das Billigsegment zu kommen“, sagt Luckow. Und wirft einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Jetzt muss er langsam los.
Dass Flugreisende immer häufiger am Boden bleiben, bringt Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbandes, auf die Palme. Das Chaos trübt das Sommerglück der Reiseveranstalter. Denn die Deutschen sind in Urlaubslaune wie selten zuvor. Das Plus der gebuchten Urlaubsreisen liegt bei elf Prozent. Viele Menschen unterwegs bedeutet aber auch viel Ärger. „Einzelne Fluggesellschaften sind von ihren Qualitätsversprechen weit abgekommen“, sagte Fiebig kürzlich in einem Interview.
Auszubaden hätten den Ärger meist die Reisebüros vor Ort. Diese erhalten keine Provision für den Verkauf von Flugtickets, hätten aber einen Riesenaufwand, um ihre Kunden in die Flieger zu bekommen. Erste Reisebüros haben mittlerweile eine Art Aufwandsvergütung gefordert – 50 Euro für jeden Fall, der Eurowings betrifft.
Anruf bei Michael Seitz. Er ist Inhaber von Frundsberg Reisen in Mindelheim. Mit zwölf Mitarbeitern führt er ein großes Reisebüro, das sowohl Urlaubs- als auch Geschäftsreisen organisiert. „Der Chef kann gerade nicht“, informiert die Mitarbeiterin. „Sie ahnen nicht,, was hier los ist, wir arbeiten noch das Chaos vom Wochenende auf.“
Etliche seiner Kunden waren von der Sicherheitspanne am Münchner Flughafen betroffen, erzählt Seitz später, als er endlich Zeit für eine Raucherpause findet. Es wird eine lange Raucherpause. Denn über das mittlerweile übliche Geschäftsgebaren der Fluggesellschaften kann der Mann viel erzählen. Es fehle etwas Grundsätzliches bei den Airlines, sagt er. „Das Gespür für den Kunden und die Kulanz.“
Kein Tag vergehe, an dem er sich nicht mit Flugannullierungen und vor allem mit Verschiebungen von Flugzeiten beschäftigen müsse. Und ja, in diesem Jahr sei es besonders heftig, so heftig wie nie zuvor. Die Kunden seien „total verunsichert“.
Seitz hat dafür volles Verständnis. Auch für die Verärgerung. Die Klienten hätten schließlich eine bestimmte Leistung gekauft, nicht selten fünf Monate zuvor dafür bezahlt, und dann müssten sie die Bedingungen akzeptieren, wie sie der Airline in den Kram passten. Es sei keine Seltenheit, dass sich ein Flug irgendwann nach der Buchung von sieben auf 17 Uhr verschiebe. Schon sei ein ganzer Urlaubstag weg. Oder ein Geschäftstermin geplatzt. Dass sich die Airlines die Unverbindlichkeit der Flugzeiten in ihren Geschäftsbedingungen vorbehält, sei in diesen Ausmaßen nicht in Ordnung, findet der Reisebüro-Inhaber. Da sei auch die Politik gefragt.
Kürzlich hatte er einen Fall, da habe Ryanair, die sonst überwiegend pünktlich fliege, einfach einen ganzen Flugtag storniert. Die Familie konnte mit ihren zwei Kindern erst einen Tag später als geplant aus Bulgarien nach Memmingen heimkehren. Die Änderung sei zumindest drei Wochen vor Abflug angekündigt worden. Oft gebe es vonseiten der Airlines aber überhaupt keine Kommunikation. Seitz erzählt den Fall eines anderen Kunden, der bei Condor einen Flug gebucht hat, tatsächlich aber mit einer litauischen Fluggesellschaft geflogen ist, weil für diesen Flugtag keine eigene Maschine zur Verfügung stand.
Am Flughafen Franz Josef Strauß ist jetzt, wenige Tage nach dem Chaos-Wochenende, wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Eine Check-in-Mitarbeiterin mit orangefarbener Schleife um den Hals wartet vor einem Aufzug. „Es sind dieses Jahr mehr Flugausfälle“, räumt sie ein. Das merkten auch die Passagiere. Und sie seien genervter. Mehr will sie dazu lieber nicht sagen. Ein Mann mit grauem Bart läuft an ihr vorbei, zielstrebig in Richtung Ausgang. Oh ja, bestätigt er auf die Schnelle, auch er habe schon mehr als genug Ausfälle mitbekommen. Was man da tun könne? „Einfach relaxed bleiben.“ Wenn das so einfach wäre.
Draußen vor den klimatisierten Hallen hat es locker 30 Grad. Aus einem Restaurant weht salziger Geruch herüber. Claudia Plangga sitzt mit zwei Bekannten an einem Tisch in der Sonne. Zehn Tage war sie in Bayern. Jetzt fliegt sie zurück nach Genf in der Schweiz – mit der Hoffnung, dass es dieses Mal besser laufen wird als auf dem Hinflug. Eineinhalb Stunden Verspätung hatte sie da. Bei einem Flug, der selbst nur knapp über eine Stunde dauert.
Statt mit einem Lufthansa-Flieger ging es dann mit einer italienischen Airline nach München. Wieso, das habe man den Passagieren nicht erklärt. „Das war einfach nur stressig“, sagt Plangga. In München angekommen, ging der Ärger weiter. „Ich musste noch eineinhalb Stunden auf mein Gepäck warten“, erzählt sie – und ist sich nicht sicher, ob sie darüber schon lachen kann. Als sie am Infostand nachgefragt habe, wo ihr Koffer bleibt, habe man ihr erklärt, dass alle Passagiere ja noch im Flugzeug sitzen.
Nun muss Plangga doch ein bisschen schmunzeln. „Wahrscheinlich“, sagt sie noch, „wäre ich mit dem Bus genauso schnell gewesen.“